Ausgabe 08 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Blonde Mädchen hinter Eisernem Vorhang und Flüge in die Freiheit

„Zuversichtlich stimmt jedes kleine, kleinste Zeichen der Verständigung über selbst eiserne Grenzen hinweg." So sehnsüchtig schrieb vor 23 Jahren der Tagesspiegel über die Berlin-polnischen Beziehungen. „Wir haben unter uns eine Reihe solcher Zeichen", liest man weiter, „eines davon ist 25 Jahre alt, schmal, langbeinig, blond und braunäugig, mit einem kleinen slawischen Akzent." „Ewa, die polnische Berlinerin" verbringt ihre Tage in ihrem aufgeräumten „Polka-Lädchen in Dahlem, zwischen bunt bemalten Holzvögeln, Keramik und Kunstgewerbe"; aus einer polnischen, warmherzigen Großfamilie kommend, hat sie nun Hans-Peter geheiratet und in Berlin auch schon eine Freundin gefunden (Ausgabe vom 24. August 1980).

„Bis zur Undurchlässigkeit verbarrikadiert"

Zu dieser Zeit, als nach Einschätzung des Tagesspiegels die Grenze „zum Osten" noch unerschütterlich aussieht (bzw. „bis zur Undurchlässigkeit verbarrikadiert"), erscheinen in Berliner Tageszeitungen zahlreiche Artikel, die einen verständnisvollen, ja beinahe liebevollen Tonfall anschlagen, wenn es um die Lebensverhältnisse der Polen im Sozialismus oder der in den Westen entkommenen polnischen Nachbarn geht. „Die Warteschlangen gehören zum Alltag" heißt es da oder „Wie die Polen ihre Einkaufsprobleme lösen ­ Versäumnisse der staatlichen Wirtschaft" (Tagesspiegel, August 1980). Grund sei, daß die „Leiter des staatlichen Handelssystems" sozialistische „Beamte im schlechten Sinne seien und in diesem Geiste auch ihre Arbeit erledigen".

Mag sein, daß der Tagesspiegel seine Leser in ihrer Vorstellungskraft nicht überfordern mochte und deshalb darauf verzichtete darzustellen, daß der tiefere Grund der Unterversorgung weniger im Beamtengeist als im Modernisierungsgeist der polnischen Gierek-Regierung lag. Denn diese hatte, nicht zuletzt um dem Westen zu gefallen, auf West-Kredit eine Wohlstandsblüte hervorgepreßt ­ mit einer Produktionssteigerung Mitte der siebziger Jahre von 65 Prozent und Fernsehshows nach westdeutschem Vorbild ­, die Anfang der achtziger Jahre endgültig zusammenbrach. Die polnische Wirtschaft produzierte zu großen Teilen, um entweder Subventionen oder Schulden zu bezahlen. In den polnischen Läden gab es immerhin zu jeder Zeit noch genügend Essig zu kaufen, doch kam es vor allem zu enormen Teuerungen von Lebensmitteln.

CDU-Politiker spürt Schicksalsgemeinschaft

Als im Sommer 1980 eine Streikwelle beginnt, sich die unabhängige Gewerkschaft „Solidarnos'c'" gründet, im September 1981 schließlich der „Kriegszustand" verhängt wird und zahlreiche Polen flüchten, nimmt die Berliner Presse daran gerührt Anteil. „Polnische Asylbewerber bevorzugen", fordert die Morgenpost gemeinsam mit dem CDU-Abgeordneten Dr. Lehmann-Brauns, der mit den Polen seinerzeit aus irgendwelchen Gründen eine „Schicksalsgemeinschaft" fühlt (Mopo, 7. Januar 1982). Westberlin spielte als Anlaufstelle für polnische Flüchtlinge eine besondere Rolle, weil die Stadt aufgrund ihres Sonderstatus' für Polen visumfrei zu erreichen war. Sozialsenator Fink ließ Ende 1981 ein zweisprachiges Flugblatt drucken, in dem er polnische Gäste herzlich begrüßte und etliche Tips gab, wie Sozialhilfe zu beantragen sei. Und der damalige Bürgermeister Richard von Weizäcker verlangt in einem sonst sachlichen Bericht in der Mopo von den Berliner Bürgern für die Polen nicht nur materielle, sondern auch „menschliche Zuwendung" (30. Januar 1982).

Wechselt man von der Verbaleuphorie zum Amtsgeschehen in der Berliner Flüchtlingspolitik, stellt sich die Situation etwas nüchterner dar. Die Ankömmlinge mußten in der Regel Asylanträge stellen. Falls sie, auf welche Weise auch immer deutsche Vorfahren nachweisen konnten, wurden sie nachträglich als Spätaussiedler anerkannt, was einige Zeit dauern konnte, jedoch großzügig gehandhabt wurde. Selbst Eintragungen auf Nazi-Volkslisten, mittels derer sich Polen zur Zeit der deutschen Besatzung hatten „arisieren" können, verhalfen zu einem deutschen Paß. Abgelehnten Asylantragstellern billigte eine Sonderregel für Ostblockflüchtlinge zumindest eine „Duldung" zu ­ diese hatte jedoch den Nachteil, nicht offiziell arbeiten zu dürfen. Als 1988 Polen seine Ausreisebestimmungen erheblich lokkerte, kam es zu einer Ausreisewelle, die zwischen 1989 und 1990 ihren Höhepunkt erreichte. Bis dahin sollen nach Schätzungen etwa 30000 polnische Staatsbürger und weitere 100000 „Deutschstämmige" nach Berlin eingereist sein.

Echte Verfolgte des Miltärregimes

Diese Reiselust der Polen dämpfte recht bald die Begeisterung an der „menschlichen Zuwendung" für die „Ostblockzuwanderer". Blumige Schilderungen in der Morgenpost von „Flügen in die Freiheit" (es ging um Flugzeugentführungen polnischer Maschinen nach Tempelhof im Jahr 1981) weichen bereits Mitte der achtziger Jahre Kommentaren wie: „Unter die echten politischen Verfolgten, die vor den Pressionen des Warschauer Militärregimes ausgewichen sind, haben sich längst zahlreiche Landsleute gemischt, die den Namen Emigranten nicht verdienen" ­ die schwarz arbeiten, hin und her reisen, über Devisen verfügen und gar Geschäfte machen. Sie „mißbrauchten Spielräume, die ihnen der demokratische Rechtsstaat" biete, „in unerträglicher Weise" (Mopo, 9. Mai 1985). Außerdem hat der gerettete Pole aus dem Sozialismus arm zu sein ­ und demütig: „Die Polen sehen gar nicht so notleidend aus, wie im Fernsehen immer gezeigt wird", beschwert sich ein Berliner Händler in einer taz-Reportage (taz, 20. Februar 1989).

Dem Problem der Anspruchshaltung von Aus- und Übersiedlern widmet der Tagesspiegel einen langen Bericht: „Die erste Wohnung sollte schon ein Neubau sein" und in der folgenden Ausgabe eine ganze Seite Publikumsapplaus: „Haarsträubend, wie Aussiedler hier mit solchen Forderungen auftreten" (gemeint ist eine Unterbringung im Sozialen Wohnungsbau). „Meinen Aussiedler, sich die Rosinen aus dem Kuchen picken zu müssen?" wird gefragt, man äußert „Sorge um unser ganzes Staatsgefüge" (Tagesspiegel, 10. Januar 1988).

Bleikristall glitzert zwischen Pfützen

Doch die ganze Lust der Journalisten an Pathos, Poesie und Drama entlädt sich endgültig, als sie im Februar 1989 am Reichpietschufer geschätzte mehrere tausend Polen aus ebenso vielen entlegenen polnischen Nestern vor sich sehen, samt ihrer Habseligkeiten. Der Wechselkurs zwischen DM und Z[oty, Inflation und minimale Löhne, vor allem im öffentlichen Dienst, haben es rentabel gemacht, polnische Würste, eingelegte Pilze oder Haushaltwaren hier für ein paar Pfennige zu verkaufen, nachdem man sie aus irgendwo hinter Pozna'n nach Berlin geschafft hat.

In den Tagen vor Weihnachten (1988) seien ein paar Dutzend polnische Touristen auf die Idee gekommen, Tischdeckchen, Kleidung und Kunstgewerbe auf dem zentralen Berliner Flohmarkt feilzubieten, berichtet die Mopo am 19. Februar 1989. „Über Nacht wurden aus den Geschäftemachern Scharen von Händlern", traut die Boulevardzeitung ihren Augen kaum. „In Dreilinden auf acht Spuren nur Polen abgefertigt ­ Andrang zum Krempelmarkt schon an den Grenzübergängen", titelt der Tagesspiegel einige Tage später. „Auf dem Boden liegt Papier. Säuberlich darauf zur Schau gestellt Geschirr, neue Hausschuhe, Kugelschreiber, Sportgeräte, Werkzeug, Garderobenhaken, Schachspiele, Zigaretten und Würste." (Mopo, 1. Oktober 1989) Vor allem, daß die Würste „fast direkt auf dem Boden" liegen, wird in allen Zeitungen, die in dieser Zeit gerne auf Seite 3 über den Polenmarkt berichten, immer wieder kommentiert. Aber eben auch solches: „‚Ist nicht teuer, echtes Bleikristall, handgeschliffen, aus Polen', sagt eine Verkäuferin im Rentenalter. Das im herbstlichen Sonnenlicht gleißende Stück wechselt den Besitzer." Was die Morgenpost zunächst „irgendwie rührend" findet (Mopo, 1. Oktober 1989), bald aber vor allem als Bedrohung von Hygiene und öffentlicher Ordnung begreift, preist derweilen das Feuilleton der FAZ als „einzigartig in Europas Mitte" (28. Februar 1989).

Während die Berliner inzwischen mitten in der Diskussion sind, ob die Verantwortung für den Müll, Toilettenhäuschen und eventuelle Zäune um den Polenmarkt beim Senat oder beim Bezirk liegt, wirft der Autor und Osteuropahistoriker Karl Schlögel ihnen Engstirnigkeit vor ­ „wo es doch um mehr geht". Auch bei ihm sehr plastische Beschreibungen: „Ein Stück Stadtwüste lebt." „Der Himmel über Berlin ist grau und der Platz schwarz von Menschen." Hier demonstriere Osteuropa, welches im Westen ankommt, „die zivilste aller denkbaren Tätigkeiten: den Handel von Mann zu Mann".

Ehepaar mit Tränen in Augen, Momper fordert Sensibilität

In weniger goldenes Licht getaucht sind die wirklichen Zustände auf dem „Polenmarkt". Die Händler des alten Trödelmarkts scheinen immer wieder zur Abgabe von O-Tönen bereit zu sein wie „die Sauerei da" oder „wollen der Polizei den guten Rat geben, etwas zu tun, bevor die Leute das hier selber in die Hand nehmen." Tut die Polizei dann auch. Von energischem Durchgreifen ist bald zu lesen, und die Händler aus Osteuropa, die von Mann zu Mann Zivilisation demonstrieren, heißen jetzt „dicke Fische" („Nur drei dicke Fische gingen ins Netz", Mopo, 26. Februar 1989).

Energisch wird erstmal der Markt am Reichpietschufer eingezäunt und für Polen gesperrt, was den voraussehbaren Effekt hat, daß die Händler ihre Sachen woanders verkaufen. Im Laufe eines Jahres werden diverse Zäune auf- und abgebaut ­ schließlich kommt der Senat auf die Idee, die Polen doch wieder ans Reichpietschufer „zu kanalisieren".

Zugleich versuchen Polizei und Zoll, irgendwie „gewerbliche" und „harmlose" Händler zu unterscheiden, also die „dicken Fische" auszusieben, weisen zurück oder aus und beschlagnahmen zum Beispiel einen Blaufuchs oder 42 Kilo Butter aus einem Fiat Polski: „Mit Tränen in den Augen steht das Ehepaar da. Doch die Behörden sind ratlos." (Mopo, 26. Februar 1989). Beschlagnahmte Waren wie Zigaretten und Wodka werden regelmäßig auf Zahl und Liter exakt in der Morgenpost veröffentlicht.

Am 50. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen fühlt sich Bürgermeister Momper jedoch bemüßigt, sich bei einer Pressekonferenz angesichts der sechs Millionen ermordeten Menschen für das teilweise doch zu harte Vorgehen von Zoll und Polizei gegen die Polen zu entschuldigen. Immer wieder würden Pässe einkassiert, „und die Leute tauchten dann ohne Geld und ohne Pässe bei den Bezirksämtern auf, weil sie nicht mehr weiter wüßten." Er, Momper, werde sich dafür einsetzen, daß demnächst „mit mehr Sensibilität" vorgegangen würde.

pisp

In der nächsten Ausgabe: Pendelmigration, Putzfrauen und Paradoxe – die neunziger Jahre

 
 
 
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