Ausgabe 08 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Wer fährt schon nach Wroclaw?

Das Zentrum gegen Vertreibung soll Deutschlands neue Opferrolle festschreiben

„Waren die Verbrechen der Nazis nicht mindestens ebenso grausam?" Diese Frage stellt die BILD-Zeitung dem SPD-Politiker Peter Glotz in einem Interview, die „brutale Vertreibung von über 14 Millionen Deutschen" im Blick. Die Maßstäbe sind jetzt also endgültig verrutscht. Glotz wendet auf die Frage immerhin ein, der organisierte Massenmord der Nazis wiege bei weitem schwerer als der Hinauswurf der Deutschen aus ihren Ostgebieten. BILD druckt derzeit einige Häppchen aus dem neuen Buch von Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück. „Das Thema verlangt eine neue – offenere – Sprache", heißt es dort, nur so sei Verständigung möglich. Wir dürfen uns also noch auf einiges gefaßt machen. Peter Glotz, 1939 in Cheb, dem damaligen Eger, geboren, steht zusammen mit CDU-Rechtsaußen Erika Steinbach, der Vorsitzenden des „Bundes der Vertriebenen" (BdV), einer Stiftung vor, die für die Einrichtung eines „Zentrums gegen Vertreibungen" in Berlin eintritt.

Ihre „Heimat" haben die meisten heutigen Wortführer der „Vertriebenen" gerade noch als Kleinkinder erlebt. Erika Steinbach ist Jahrgang 1943; Bernd Posselt, der Vorsitzende der „Sudetendeutschen Landsmannschaft", der für die CSU im Europaparlament sitzt und dort Stimmung gegen Tschechien macht, wurde gar erst 1956 geboren. Sein Vater, so läßt er verbreiten, stamme aus Gablonz an der Neiße, seine Mutter aus Graz. Nun, da die meisten tatsächlich noch selbst aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Geworfenen zum überwiegenden Teil im Altersheim oder auf dem Friedhof zu finden sind, wird mit tatkräftiger Unterstützung der rot-grünen Bundesregierung dreister agitiert als je zuvor. So wurde etwa im März von Posselts Organisation gleich ein „Sudetendeutsches Kontaktbüro" in Prag eröffnet.

Wie soll aber nun das geforderte Zentrum aussehen? Neben unverbindlichem Geseier à la „Vertreibungen weltweit entgegenwirken" und „Dialog mit den Nachbarvölkern" legt die „Stiftung der deutschen Heimatvertriebenen" ihre Karten klar auf den Tisch: Ihre Sicht der Dinge soll auf Kosten des Bundes wirksam in Szene gesetzt werden. „Schicksal und Geschichte" der deutschen Vertriebenen sollen erfahrbar gemacht, ein „Gesamtüberblick über die Vertreibung von mehr als 15 Millionen Deutschen" gegeben werden, in einer „Requiem-Rotunde" wird der Opfer gedacht. Was Erika Steinbach so nicht direkt sagen würde, steht im Gästebuch der BdV-Homepage: „Selbstverständlich bin ich dafür, in der alten Reichshauptstadt ein Denkmal für die Vertriebenen zu erstellen, der Zentralrat der Juden hat auch ein Denkmal in kolossaler Größe durchgesetzt."

Es hat lange gedauert, aber mittlerweile schrillen auch in der polnischen Öffentlichkeit die Alarmglocken. Zuvor hatten einige polnische Intellektuelle um Adam Michnik und Adam Krzeminski in versöhnlerischer Absicht Wroclaw als Standort für ein ­ dann aus dem deutschen Kontext herausgerückten ­ Zentrum ins Spiel gebracht. Auch Gerhard Schröder, der die „Vertriebenen" nicht weniger hofiert als CDU-Regierungen es taten, bemüht sich um einen europäischen Kompromiß. „Ein Zentrum in Breslau? Gern, aber wer fährt schon nach Wroclaw", kommentiert ein Diskutant auf der Webseite des BdV den polnischen Vorschlag.

Beharrlich wird derweil auf allen Kanälen die Lüge verbreitet, es bedeute einen Tabubruch, das deutsche Leid im und unmittelbar nach dem Krieg nun endlich zu thematisieren. Schon kurz nach Kriegsende hatten sich die Heimatvertriebenen in ihren Landsmannschaften organisiert, bald wurde der BdV als Dachorganisation der Landsmannschaften gegründet. 1950 wurde in Stuttgart eine noch heute grundlegende „Charta der deutschen Heimatvertriebenen" verabschiedet. „Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten", heißt es dort, „wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, daß das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird." Der politische Einfluß der Vertriebenen war dann in der Nachkriegs-BRD beträchtlich. Landauf, landab erinnerten in Neubaugebieten Straßennamen an die Geographie der „verlorenen Gebiete" von Waldshut bis Fischhausen, bis in die achtziger Jahre hinein waren in der BRD und in Österreich Schulatlanten in Gebrauch, in denen Schlesien oder Ostpreußen als „derzeit unter polnischer bzw. sowjetischer Verwaltung" vermerkt und in denen ausschließlich die alten deutschen Ortsnamen eingezeichnet waren. Tabuisierung sieht anders aus.

Nun geht es darum, die neue deutsche Opferrolle endlich symbolisch festzuschreiben. Einige Regierungsmitglieder haben da noch Bauchschmerzen, fast die gesamte Publizistik zieht allerdings mit. Ein Schreiber in der Berliner Zeitung etwa kann die Einwände gegen das Zentrum nicht verstehen: „Dabei würde die Aufarbeitung der eigenen Erlebnisse deutschem Engagement gegen Vertreibung und andere Verletzungen von Menschenrechten mehr Glaubwürdigkeit verleihen." Um damit glaubwürdiger in aller Welt Krieg führen zu können? Das Holocaust-Mahnmal, „mit dem sich die Deutschen die Erfahrungen ihrer jüdischen Opfer zu eigen machen", errege schließlich auch keinen Anstoß. Herfried Münkler in der Frankfurter Rundschau bescheinigt den polnischen und tschechischen Kritikern des Projekts „ein gutes Gespür für den politischen Mehrwert, der seit einiger Zeit mit dem Opferstatus verbunden ist", sie wollten diesen Opferstatus eben mit möglichst wenigen teilen. Und, um noch einmal in die Niederungen der Springer-Presse zurückzukehren, Cora Stephan schreibt in der Welt: „Wer, wie die rot-grüne Bundesregierung, den militärischen Eingriff im Kosovo befürwortet hat, weil man Vertreibung und Genozid, ja ein neues Auschwitz verhindern müsse, kann nicht, will er nicht den Rachefeldzug aller gegen alle proklamieren, Vergleichbares rückwirkend für rechtens erklären." Auschwitz, Pristina, Königsberg: alles eins.

Florian Neuner

 
 
 
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