Ausgabe 07 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Die Stadt als Realität und Fiktion

Splitter zum Urbanen in der Literatur

Die Autoren leben in Städten oder kennen sie doch zumindest.

Im Oktober 1989, als noch niemand absehen konnte, daß ein neues Großdeutschland im Schwange war, das dann auch bald glaubte, sich eine Metropole am Ort der alten Reichshauptstadt erfinden zu müssen, holte Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu einem der beliebten Rundumschläge über die angeblich mangelnde Qualität der deutschen (Mainstream)Gegenwartsliteratur aus: Seit Böll, Bernhard und Johnson habe es eigentlich keine relevanten deutschsprachigen Autoren mehr gegeben. Es lohnte nicht, an dieses verzerrte Panorama zu erinnern, hätte Schirrmacher damals nicht das Heil in einer erst zu begründenden, neuen Metropolen-Literatur gesehen: „Es gibt bei uns seit Jahrzehnten keine Literatur der Metropolen, des städtischen Lebens, der Weltstadt, des Weltlebens. Die Autoren lieben New York; als Passepartout taucht der Name in jedem zweiten Roman auf. Aber sie sind unwillig, das Dickicht ihrer eigenen Städte auch nur zu betreten. Solange die deutsche Literatur sich der Gesellschaft in den Metropolen, der kalten und abgründigen Sozietät in diesem längst zu einer gigantischen Stadt gewachsenen Lande nicht zuwendet, müssen ihre Leser sich mit Idyllen begnügen."

Die Auffassung, der Wechsel des Sujets könne einen ästhetischen Innovationsschub bewirken, ist natürlich naiv, einem altbackenen Realismus-Konzept geschuldet. Spätestens mit den von Schirrmacher gewünschten Berlin-Romanen, die ja mittlerweile geschrieben worden sind, wäre dann auch der Beweis erbracht, daß es an mangelnder Urbanität nicht liegen kann, wenn das, was die großen Feuilletons als deutsche Gegenwartsliteratur wahrzunehmen sich bequemen, nicht sehr viel Interesse beanspruchen kann.

Die übersteuerte Hirnmasse in den Straßen

Denn tatsächlich ist die vermarktbare deutsche Literatur in den neunziger Jahren an der Oberfläche ihrer Plots und Sujets urbaner geworden. Ästhetisch ist aber – ganz im Gegenteil – gleichzeitig eine Regression, eine Erosion des Reflexionsniveaus zu verzeichnen, bis hin zu jener seichten Erzählware, die den Begriff Pop in der Literatur endgültig diskreditiert hat.

Es konnte natürlich nicht ausbleiben, daß all die aus der Provinz zugezogenen Literaten in Berlin plötzlich das Thema Großstadt entdeckten. Eine banale Lyrik wird aber nicht dadurch zeitgemäßer, daß sie Großstadt herbeizitiert und etwa vom „Endlos-Soundtrack der Krankenwagen" spricht wie ein in Berlin geborener Autor – der natürlich nach New York ausweichen muß auf seinem urbanen Trip. Aber auch die Wahrnehmung eines sonst eher dem Agrikultürlichen verhafteten Sprachmystikers aus Österreich, dessen syntaktische Verdrehungen manche für innovativ halten, ist durch das neue Berlin nicht eben geschärft worden: „Flöz die Grundeln Quellen auf auf Talsohle/(der Trogwall, Untiefen vom Anland, Sandel/zutage Geröllflächen, Senkwannen-das)/gestade zur Stadt."

Man kann in einer Großstadt leben oder nicht, über Städte schreiben oder nicht; Fragen literarischer Qualität und Relevanz sind davon nicht berührt.

Nirgendwo, so wird behauptet, sei die Autorendichte pro Quadratmeter so groß wie in Berlin. Da möchte man natürlich Genaueres wissen.

Die in Basel erscheinende Literaturzeitschrift drehpunkt blickte vor kurzem neugierig nach Berlin, wo sie eine neue deutsche Literatur vermutete. Den Trend der in Berlin produzierten Literatur zu Marktgängigkeit und Banalisierung nobilitiert der Literaturwissenschaftler Peter Ensberg für die Schweizer so: „Die neue Literatur erzählt Geschichten und bevorzugt einen einfachen lakonischen Stil. Man könnte sie fast traditionell nennen, und doch ist sie es nicht." Ist sie natürlich doch. Ensbergs Neuheits-Begriff ist dabei immerhin so verquer, daß er die Betulichkeit einer Judith Hermann ebenso fassen zu können meint wie die pseudo-kritische Zeitgeist-Prosa einer Kathrin Röggla. Daß am Schreib-Standort Berlin noch nicht ganz Hopfen und Malz verloren ist, dokumentieren die ebenfalls im drehpunkt abgedruckten Texte von Ulrich Schlotmann und Ulf Stolterfoht. Und Dieter Stolz vom Literarischen Colloquium meint im Interview mit der Schweizer Zeitschrift zutreffend: „Die Teilhabe am urbanen Literaturbetrieb bedeutet nicht unbedingt einen literarischen Vorsprung. Herausragende Literatur spielt oder entsteht nicht unbedingt in den Metropolen, sondern in den vielleicht gar nicht so weltabgewandten Regionen des Landes."

In Berlin wohnen viele Autoren – was wohl nicht zuletzt mit den geringen Lebenshaltungskosten zu tun hat. In Berlin gibt es mehr Literaturhäuser und -veranstalter als anderswo – die freilich einen immer bedenklicheren Drall hin zu Event und Spektakel entwickeln. Andererseits: Berlin ist nicht einmal der wichtigste Verlagsort Deutschlands, Tendenz: Bedeutung sogar abnehmend. In Berlin erscheint keine wichtige Literaturzeitschrift (Sprache im technischen Zeitalter hatte ihren Zenit schon lange vor Walter Höllerers Tod überschritten); in Graz mit seinen 250000 Einwohnern hingegen gibt es gleich mehrere überregional relevante Zeitschriften. Das einzige eigenständige Phänomen im literarischen Feld, das in den letzten Jahren auf Berliner Boden gedieh, waren die Lesebühnen – letztlich wohl doch ein subliterarisches. Hier ist eine neue Sparte der Unterhaltungsbranche entstanden, aber keine Literatur.

Aber natürlich wird in Berlin interessante Literatur geschrieben – häufig kaum bemerkt und sicher nicht zu finden in den Berlin-Ecken der Buchhandlungen.

Florian Neuner

 
 
 
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