Ausgabe 07 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Auf der Flucht

Michael Winterbottoms Dokudrama In this World

„Er soll eine gute Zukunft haben", sagt der Onkel im pakistanischen Peschawar. Sein Neffe Enayatullah soll zu Verwandten nach London. Waisenjunge Jamal, ein anderer Neffe, kennt jemanden, der „helfen" kann. Doch Enayatullah spricht kein Englisch, nur Pashtu. Damit kommt man nicht weit. Schon gar nicht, wenn die gefährliche Reise aus Geldgründen auf dem Landweg vonstatten gehen soll. Jamal kann Englisch und darf mit. Wer die Lebensbedingungen im nahen Flüchtlingslager zuvor gesehen hat, versteht, warum sie weg wollen. Überall scheint es besser zu sein als dort, wo sich Tausende afghanischer Flüchtlinge in Zelten und windschief gebauten Häuschen zusammendrängen: Eine Flüchtlingsstadt, in der jede Familie nur Anspruch hat auf ein Zelt, eine Plastikplane, drei Decken und einen Ofen. Die Lebensmittelrationen sind knapp bemessen. Warum sollten also die zwei nicht ihr Glück versuchen?

Ähnliche Geschichten passieren jährlich weltweit ungefähr eine Million Mal. Gehen sie schlecht aus, liest man in der Zeitung von toten Flüchtlingen in Containern. Aber was widerfuhr ihnen auf dem Weg? Diese Frage stellte sich auch Regisseur Michael Winterbottom, nachdem die Zeitungen erneut von einer mißglückten Flucht berichteten. Das war der Anstoß, einen so anrührenden und außergewöhnlichen Film wie In this World zu machen. Obwohl Winterbottom seit Welcome to Sarajevo eine Art Spezialist für aktuelle Themen zu sein scheint, ist doch dieser Film etwas ganz Besonderes. Ausschließlich mit Laiendarstellern besetzt und mit DV-Kameras ohne zusätzliche Beleuchtung an Orignalschauplätzen gedreht, bekommt er eine beinahe beängstigende Wahrhaftigkeit. Der Film nimmt den Zuschauer mit in beiderlei Bedeutung: Indem er zusammen mit den Protagonisten auf ihre lange, viermonatige Reise geht und indem er mitleidet mit den Schicksalen der Flüchtlings-Zweckgemeinschaften, die sich im Laufe ihres Fortkommens bilden.

Die Route beginnt im pakistanischen Peschawar, führt weiter über Teheran, Istanbul und von dort aus über das Meer nach Triest. Dazwischen liegen scheinbar unendliche Fahrten auf Jeep-Ladeflächen, in LKW-Verstecken und Bussen, nächtliche Fußmärsche in eisiger Schneekälte und Nächte in den Massenquartieren der Menschenschmuggler, immer in der Angst, entdeckt und wieder zurückgeschickt zu werden. Alles Dinge, die der interessierte europäische Zuschauer theoretisch weiß. Nur weiß er nicht, wie es sich anfühlt, 40 Stunden in einem dunklen Container eingepfercht zu sein, ohne Verpflegung und ohne zu wissen, wie lange die Reise dauert und wohin sie geht. Hier bekommt er zumindest eine Ahnung davon, denn die digitale Technik erlaubt eine große Nähe zu den Darstellern.

Obwohl es eine Art Drehbuch gab, agieren die Laien jedoch normal, wie im „richtigen" Leben. So erreichen diese anderthalb Stunden, was ellenlange menschelnde Abhandlungen vergebens versuchen: daß man wenigstens ansatzweise die Beweggründe versteht, die Menschen dazu bringen, solche Strapazen auf sich zu nehmen wie Jamal und Enayatullah. Man gönnt ihnen, daß sie es schaffen, nach England zu kommen, egal aus welchen Gründen.

Mancher wird vielleicht beim Zuschauen seine Position überdenken. Geschieht das, ist das Anliegen Winterbottoms erreicht, nämlich Verständnis zu wecken, gerade heute, wo die Flüchtlingsströme immer größer werden. Bei seiner Deutschlandpremiere bei den Berliner Filmfestspielen wurde der Film heftig diskutiert und zurecht mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Dieser Film regt auf und an. Was will man mehr?

Ingrid Beerbaum

> „In this World" kommt am 18. September in die Kinos.

 
 
 
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