Ausgabe 07 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Entfesselte Bedeutungen

Narren zeigt den Wahnsinn im Karneval

Zur Zeit des Karnevals gebe es in Köln nur zwei Alternativen, erfahren wir gleich am Anfang des Films Narren: entweder Auswandern oder Mitfeiern. Roman, der frisch Zugezogene, hat keine Wahl. Da er seine sich auf den Tod vorbereitende Großmutter pflegt, kann er die Stadt nicht verlassen – zumal die gewitzt-schrullige Alte noch einmal den Rosenmontagszug erleben möchte. Aus der Perspektive des Nichteingeweihten erscheint uns der Karneval als barbarisches Fest, als unübersichtliche Ansammlung mythischer Bräuche, als unkontrollierter Ausnahmezustand, in denen die Normen und Werte außer Kraft gesetzt sind, die sonst in einer von Sexismus, Rassimus und Ausbeutung geprägten Gesellschaft das Schlimmste verhüten. Wer während der tollen Tage nicht jede Entfesselung und Übertretung des Anstandes feiert, gilt als spießiges Weichei.

Roman, bisher offensichtlich unerfahren im Feiern, assimiliert sich so gut wie möglich und akzeptiert die ihm unverständlichen Riten der Eingeborenen: Er nennt seinen Chef ­ wie befohlen ­ beim Vornamen, säuft bis er kotzt, verbringt die Nacht mit der ihm aufgedrängten Frau und verfolgt sogar einen kleinen Taschendieb, der zwei Jecken um ihre Brieftaschen erleichtert hat. Als dieser daraufhin zu Tode geprügelt wird, verliert Roman endgültig den Boden unter den Füßen.

Die durch das Schuld-Trauma ausgelöste psychotische Wahrnehmung Romans prägt den weiteren Verlauf des Films. Die Handlung wird immer unwahrscheinlicher, alle Szenen und Bilder verknüpfen sich. Die mit einer unauffälligen Handkamera gefilmten Karnevalsszenen werden zunehmend surrealer. Der Zuschauer glaubt bald, hinter jeder grotesken Figur, jeder albernen Verkleidung und jedem Schnitt eine tiefere Bedeutung zu ahnen. Während andere Drehbuchschreiber den Zufall überstrapazieren, um einen möglichst effektheischerischen Plot zu generieren, wird er bei Narren systematisch als Stilmittel eingesetzt, das den Bedeutungswahn des Protagonisten verdeutlicht und den Zuschauer zur Teilnahme zwingt.

Regisseur Tom Schreiber wagt viel: nicht nur die visuelle Umsetzung eines heiklen seelischen Zustandes, sondern auch einen gesellschaftspolitischen Essay über die temporäre Aussetzung der bürgerlichen Ordnung. Sind Tabubrüche und Entfesselung zu begrüßen, wenn nicht gleichzeitig die hegemonialen Verhältnisse attackiert werden, oder führen sie gerade dazu, daß die Schwächeren einer Gesellschaft den Stärkeren vollends schutzlos aussgeliefert sind? Kann es überhaupt einen rituellen Ausnahmezustand geben oder wird das Ereignis zu einem sinnentleerten Brauch, in dem der Karnevalsprinz krank wird an seinem Auftrag zum Feiern? Stellen die paar anarchischen Tage überholte Konventionen in Frage oder stützen sie die Zwänge im Rest des Jahres, indem sie sie erträglicher machen? Die aufgerufenen Fragen beziehen sich nicht ausschließlich auf den Karneval; so sind auch Vorkenntnisse des Zuschauers über das Treiben in Köln nicht nötig. Dagegen könnten sich Karnevalfans an der beängstigenden und mitunter ekelerregenden Darstellung des Festes stören.

Der Film liefert keine eindeutigen Antworten. Vielleicht entstehen die Fragen sogar nur im weichgekochten Hirn des Zuschauers, dem keine eindeutigen Unterscheidungen zwischen Wahn und Wirklichkeit, Erzählung und Parabel geliefert werden. Nun, umso besser.

Susann Sax

> „Narren" von Tom Schreiber kommt am 11. September in die Kinos.

 
 
 
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