Ausgabe 07 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Musik für die Massen

Grenzerkundungen

Kein Monat steht so sehr unter dem Oberthema Reisen wie der August. Während die Deutschen – Terroralarm und Italienschmäh hin oder her – in die Welt aufbrachen, machte das popdeurope-Festival im Haus der Kulturen der Welt „migrating sounds" zum Thema. Reisen als Grenzen ignorierendes Wandern von musikalischen Konzepten. Reiseziel: Verwerfungen der eingefahrenen Klischees in Sachen Weltmusik. Nachzuhören sind einige der Höhepunkte der vertretenen Bands und Projekte auf dem Sampler Popdeurope (Peacelounge). Dabei wird deutlich, wie vielseitig internationalisierte Stile wie HipHop, R´n´B, Techno und Reggae in einem regionalen Kontext sein können. Und das heißt eben nicht, alles in einer angesagten Sauce – wie zum Beispiel dem derzeit beliebten Asia-Flavour-Dip – zu ertränken. Gut hörbar umspannen die musikalischen Wurzeln der Musiker fast alle Kontinente, auch wenn die meisten der Bands inzwischen in den Metropolen Europas experimentieren und arbeiten.

Als musikalisches Labor hat sich Wagner Pá Barcelona ausgesucht. Hier forscht er an der Verschmelzung von Samba, Bossa, Reggae und Funk mit einem wohldosierten Anteil flubbernder Elektronik. Nu-Latin nennt sich das Ganze, und Imparale Transéunte (Organic Records) heißt das Werk. Tatsächlich hört er sich nach einem „nicht zu stoppenden Passanten" an: Im besten Sinne flaniert Wagner Pá über den Marktplatz der musikalischen Stile und kreiert ein höchst charmantes Werk zwischen Melancholie und Tanzfläche.

Mit dem Fokus auf nur einen Musikstil und nur eine Sprache gelingt einem Sampler mit dem wenig originellen aber wohl passendem Titel The Best of Turkish Rap & R´n´B eine spannende Wanderung zwischen eingefahrenen musikalischen Strukturen. Hintergrund ist ein zunächst krasser Ausschlußmechanismus: Als hierzulande deutschsprachiger HipHop kommerziell erfolgreich wurde, fielen die türkischen Crews, die nicht in den Deutschen Kanon einstimmten, bis auf wenige Ausnahmen durch den Aufmerksamkeitsfilter. Inzwischen ist deutschsprachiger HipHop zwar etabliert, aber auch gähnend langweilig geworden. Dafür treten immer mehr türkische Rapper immer selbstbewußter auf, und langsam wächst auch das (Medien)Interesse. So paßt es, wenn das neugegründete Label Oriental Media Network eine Plattform anbietet, die jenseits der kleinen Vertriebskanäle türkischen HipHip durchsetzen will. Neuentdeckungen en masse zwischen sanftem orientalischem Flow und hartem Großstadtbeat.

Nach so viel aktuellen Grenzübertritten zum Schluß noch ein wahrhaft historisches Projekt: Vor rund 20 Jahren feierten New Yorker Clubs die Fusion von Funk und Punk, von serieller Ordnung und anarchistischem Lärm. Gleichzeitig mutierten Clubs zu Theaterbühnen, Schauspieler wurden Musiker, während Filmemacher Maler filmten und Bands die Werke vertonten. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich Manhattan zum Schmelztiegel, in dem nicht nur musikalische Genres verschwammen, sondern der gesamte Avantgardebereich durcheinanderwirbelte. Nachzuhören ist zumindest der musikalische Output dieser Ära auf dem empfehlenswerten Sampler New York Noise – Dance Music From The New York Underground (Soul Jazz).

Marcus Peter

 
 
 
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