Ausgabe 07 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Berlin 1903

4. September bis 1. Oktober

Die Fahrversuche der Studiengesellschaft für elektrische Schnellfahrten sollen Ende September auf der Militärbahn zwischen Marienfelde und Zossen wieder aufgenommen werden. Bekanntlich brachten es die beiden Motorwagen im vorigen Jahr auf eine Höchstgeschwindigkeit von 160 km die Stunde, wobei eine Fahrgeschwindigkeit von 200 km/h angestrebt war. Um dieses Ziel erreichen zu können, mußte der alte, viel beanspruchte Oberbau der Militärbahn vollständig erneuert und bedeutend verstärkt werden. Diese Arbeiten sind jetzt abgeschlossen: Es sind durchweg schwere Eisenbahnschienen von 42 kg pro Meter statt der gewöhnlichen von 36 kg verwendet und die Zahl der Querschwellen ist erheblich vermehrt worden, so daß jetzt auf 12 Meter Schienenlänge 18 Schwellen kommen.

Um die Entgleisungsgefahr zu minimieren, wurden Zwangsschienen angeordnet, die auf besonders konstruierten Stühlen ruhen und die Köpfe der Fahrschienen um etwa 5 cm überragen. Auch an den beiden Schnellbahn-Motorwagen wurden wesentliche Veränderungen angebracht, die einen ruhigeren Lauf und die Spurtreue der Räder sichern sollen. Dazu haben die Wagen Drehgestelle mit größerem Radstand erhalten, auch sind die Drehzapfen verschoben und die ganze Konstruktion ist übersichtlicher angeordnet worden, damit man die Federn während des Betriebes besser beobachten kann. Außerdem wurden die Wagen noch mit verschiedenen neuen Meßvorrichtungen ausgerüstet, mit denen die Geschwindigkeit, der Luftwiderstand, die Bewegungs-Widerstände usw. genauer kontrolliert werden können. Auch auf der Strecke der Militärbahn selbst werden dafür Kontakte angebracht. Da auch die beiden Wagen fertiggestellt sind, können, sobald die jetzt stattfindenden Revisionsarbeiten auf der Strecke beendet sind, kleine Fahrversuche zur Prüfung des Oberbaues stattfinden. In Marienfelde herrscht schon am 4. September ein regeres Leben: Man sieht dort die an den Schnellfahr-Versuchen beteiligten Ingenieure mit ihren Beamten die Wagen revidieren, die Strecke besichtigen usw.

Die zusammengewachsenen Zwillingsschwestern Rosa und Josefa erfahren in der Berliner klinischen Wochenschrift eine eingehende wissenschaftlich-kritische Besprechung durch den Privatdozenten Dr. Henneberg und Fräulein Dr. Stelzner. Der Bericht beschäftigt sich vorwiegend mit der medizinisch und juristisch interessanten Frage, inwieweit solche zusammengewachsenen Menschenkinder als eine Persönlichkeit aufzufassen sind. Bei den Schwestern Rosa und Josefa bestand keinerlei geistige Gemeinschaft, und von einem Zusammenhang des geistigen Geschehens war bei ihnen nie die Rede. Damit deckt sich auch die Tatsache, daß die Gesichtszüge beider Mädchen keine Ähnlichkeit aufweisen. Obwohl zwischen den Zwillingen dauernd ein Austausch des Blutes besteht, ist die körperliche Konstitution bei beiden eine ganz verschiedene, und auch krankhaften Einwirkungen gegenüber verhalten sie sich durchaus abweichend. So zeigte der eine Zwilling Fieber, während der andere normale Körpertemperatur aufwies. Daß der Saftaustausch zwischen den Zwillingen rasch und ausgiebig ist, ging aus einem einfachen Experiment hervor: Rosa erhielt zwei Gramm eines Medikaments, und schon nach einigen Stunden konnte man dieses in gleichen Mengen im Speichel beider Zwillinge nachweisen.

Zum Schluß ihrer Darlegung streifen Henneberg und Stelzner zivil- und strafrechtliche Fragen. Würde z. B. eine Freiheitsstrafe an einem der zusammengewachsenen Zwillinge vollstreckt werden können? Das klingt sonderbar, aber zum Beweis, daß derartige rechtliche Fragen nicht ganz müßiger Natur sind, teilen die Autoren ein Vorkommnis mit, das den Zwillingen in Frankreich widerfahren ist. Bei einer Reise jenseits der Vogesen nahm der Impresario der Mädchen für beide nur ein Billett. Die Eisenbahnverwaltung verlangte zwei Billette. Der Impresario prozessierte, verlor und mußte die Kosten von angeblich 1600 Franken selber tragen.

Falko Hennig

 
 
 
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