Ausgabe 06 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Liebe auf den zweiten Blick

Der Görlitzer Park hat zwar kein Gras, dafür aber Grillplätze, die sich drehen

Die Schmuddelkinder unter den Berliner Parks sind der Mauerpark und die Kreuzberger Taiga Görlitzer Park, urteilte die zitty im Heft Nr. 13: Beide Parks sind eigentlich eine Steppe, nicht wirklich sauber und hoffnungslos übernutzt. Rasenflächen, die sich nicht mal mehr erinnern können, wie es war, als hier einst Gras wuchs. Und dennoch: Der Berliner liebt das ganz offensichtlich, staunt das Freizeitmagazin. Dem Charme des Mauerparks kann sich auch der zitty-Redakteur schwer entziehen – angesichts der vielen jungen Menschen aus Prenzlauer Berg, die hier „dennoch" und vielleicht sogar „gerade deshalb" flirten und feiern. Wenn schon keine schönen Blumen, dann wenigstens schöne junge Menschen. Parkleben, wie es sein soll, begeistert sich überraschend die zitty-Jury, bunt, lustig, abwechslungsreich.

Daß es Parks ohne Gras geben kann, die trotzdem beliebt sind, beginnt sich offenbar herumzusprechen. Der Park für die, die sich drin aufhalten wollen, nicht umgekehrt ­ der Mauerpark hat zwar Feinde, aber auch Verteidiger. Mit dem Schmuddelkind Nummer zwei dagegen, dem Görlitzer Park, scheint sich die mediale Öffentlichkeit ein bißchen schwerer anfreunden zu können. Obwohl sich die Gesellschaft der Müßiggänger hier nicht unwohler zu fühlen scheint. Der Unterschied mag sein, daß die Parkbesucher hier andere sind. Hier „tummelt sich" zwar auch „szeniges Partyvolk", bescheinigt die zitty. Doch diejenigen, die hier lagern und spielen, sehen im Schnitt eine Spur weniger jung und hoffnungsvoll aus. Mancher echter Westberliner Hippie ist hier noch dabei und mancher, der offenbar die achtziger Jahre als Punk überstanden hat und dem man nun vollends zutraut, für den Rest seiner Tage sich selbst treu zu bleiben. Leute, die es mit dem Müßiggang ernst meinen, dafür aber ein bißchen sperriger sind. Und die vielen türkischen Großfamilien ­ nun ja, die lagern eben auf Decken und grillen Köfte. Hartnäckiger als im Mauerpark integrieren sich im sogenannten „Görli" die Kinder. Sie haben auch ein Recht, draußen zu sein, und lernen früh, sich durchzusetzen.

Tatsächlich kann der Kreuzberger Großspielplatz für Alle nicht von sich behaupten, ein blühender Garten zu sein. Dazu müßte man ihn in der Tat gießen, wie die zitty ganz richtig bemerkt. Aber in Kreuzberg scheint man ganz andere Prioritäten zu setzen. Statt in eine Sprenkelanlage, die womöglich das Steppenflair zerstören könnte, wurde unlängst in kleine unsichtbare Karussells unter der Oberfläche investiert, die je ein kreisförmiges Stückchen Taiga ganz langsam drehen. Auf jedes bewegte Steppenstück paßt je ein Grillfeuer. Das ist famos, kann doch der Lagernde seine Köstlichkeiten grillen und dabei das ganze Panorama genießen, ohne ein einziges mal aufstehen zu müssen. Und wer seine Papierservietten vergessen hat, der braucht nur darauf zu warten, daß der Wind ihm verspielt eine vom Nachbarpicknick zubläst. Parkleben wie es sein sollte. Lustig und voller kleiner Überraschungen.

Tina Veihelmann

 
 
 
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