Ausgabe 06 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Wer Gott vertraut und Bretter klaut, der hat 'ne schöne Laube

Zur Geschichte der Berliner „Armengärten"

Wenn man sich von Norden, Süden, Westen oder Osten kommend, nach endloser Fahrt durch flache, einförmige, öde und unfruchtbare Landstriche, durch Tannenforste, Runkelrübenäcker und Kartoffelfelder, Berlin nähert, bietet sich dem Auge ein eigenartiges Bild, dem ich außerhalb Deutschlands noch nirgends begegnet bin. Man stelle sich weite, in lauter Rechtecke von 20 Metern Länge und 10-15 Metern Breite, eingeteilte Flächen vor; Holzzäune oder auch einfache Drähte trennen die einzelnen Abteilungen voneinander, auf deren jeder sich rohgezimmerte Bretterbuden erheben, deren Dach eine Fahne überragt, was den Eindruck hervorruft, als flackerten hier, auf einer ziemlich ausgedehnten Strecke, eine Unmenge bunter, aus irgendeinem festlichen Anlasse aufgestellter Flämmchen. Das nennen die Berliner: „Die Lauben".

Jules Huret, französischer Journalist, 1909

Ein Fahnenmeer findet man heute nicht mehr in den Laubenkolonien. Am Eingang der Kolonie „Sandkrug" an der Bornholmer Straße prangt stattdessen ein Schild mit der Aufschrift „Privatgrundstück ­ Unbefugten ist das Betreten und der Aufenthalt verboten." Ignoriert man diese Unfreundlichkeit und dringt ins Innere des Heiligtums vor, sieht man stattliche Wohnhäuser statt Bretterbuden; man begegnet flanierenden alten Frauen und mittelalten Männern, die in übertrieben gepflegten Gärten herumstehen und einen Gartenschlauch als Schwanzverlängerung in die Höhe halten. Als Eindringling ist man schnell enttarnt, kommt aber gerade noch ohne Anzeige wegen Hausfriedensbruch davon.

Ein paar hundert Meter weiter auf Pankower Seite, in der „Kolonie Bornholm I", wird man etwas freundlicher empfangen ­ mit einem Hinweisschild zum vereinseigenen Gartenlokal „Bauernstube" nämlich. Dort kann man regionale kulinarische Spezialitäten in Form von Berliner Kindl verzehren ­ wenn man sich denn reintraut. Unerwünscht fühlt man sich hier nämlich ebenfalls, auch wenn sowohl die Lauben, als auch die Gärten deutlich weniger schnieke sind und im bescheidenen Rahmen sogar noch etwas Landwirtschaft betrieben wird.

Entstanden sind die ersten Kleingärten in Berlin 1833 auf Anordnung der städtischen Armenverwaltung. Auch damals wollte die Stadt Geld sparen. Statt den gerade in Massen einwandernden Armen die Nahrungsmittel einfach in die Hand zu drücken, verfiel man auf die Idee, ihnen ein Stück Land zur Verfügung zu stellen, mit dessen Hilfe sie ihre Ernährung selbst sichern und damit keine weitere Unterstützung verlangen sollten. Wer einen dieser 300 Quadratmeter großen „Armengärten" ergatterte, mußte sich einem strikten Regiment unterwerfen. Ein Aufseher legte genauestens fest, wann welche Arbeiten zu erledigen waren, wann man säen und wann ernten mußte. Bei Zuwiderhandlungen sowie Faulheit, Unsittlichkeit, Streit- oder Trunksucht drohte der Verlust des Gartens. In der Gründerzeit blühte aber die Bodenspekulation, so daß man in Berlin ab 1897 wieder dazu überging, die Armen direkt zu verköstigen, während man die ehemaligen Armengärten versilberte.

Unabhängig von staatlichen Stellen hatte sich in der Zwischenzeit längst eine Kleingartenbewegung entwickelt. Zum einen gab es die Schrebergartenbewegung, die sich auf den Leipziger Arzt Daniel Gottlieb Moritz Schreber berief. Der hatte mit Kleingärten eigentlich gar nichts am Hut, sorgte sich aber um die „Volksgesundheit" und forderte den Bau von Spielplätzen, um die Stadtjugend zu einer naturgemäßen Lebensweise zu erziehen. Die Schrebergärten waren aber bald nur noch finanziell besser gestellten Kreisen zugänglich. Zum zweiten betrieb das Rote Kreuz deutlich preisgünstigere „Arbeitergärten" und zum dritten entstanden seit 1862 als Zwischennutzung auf Bauerwartungsland „wilde" Kolonien.

Hier bauten sich die Pächter, zunächst als Wetterschutz, die ersten kleinen Lauben, die laut damaliger Polizeiverordnung „völlig durchsichtig" zu sein hatten, um zu verhindern, daß dort Leute einzogen. Das konnte aber nicht unterbunden werden, weil die Wohnungsnot im ausgehenden 19. Jahrhundert derart harsch war, daß selbst Toreinfahrten vermietet wurden. Also entstanden auch dichtbesiedelte Laubenkolonien, die eher brasilianischen Favelas geähnelt haben müssen als heutigen Kleingartenanlagen.

Trotzdem galten Kleingärten als unterstützenswert, weil sie die Arbeiter aus den Wirtshäusern ins Grüne locken und sie von Alkohol und Vergnügungssucht abbringen sollten. Diese Hoffnung war allerdings trügerisch. Die meisten Laubenkolonien betrieb ein Generalpächter gewinnorientiert. Dessen Hauptverdienst lag dabei aber nicht in der Weiterverpachtung des Landes, sondern in der Bewirtschaftung der Kantine. Wer den Pachtvertrag für seine Laube verlängert bekommen wollte, mußte, einem ungeschriebenen Gesetz zufolge, dort möglichst viel verzehren. Der daraus resultierende exzessive Alkoholgenuß zog Gewaltausbrüche nach sich, in deren Gefolge auch mal ein Generalpächter erschlagen oder ein Mitzecher totgebissen wurde.

Foto: Jenny Wolf

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Generalpachtsystem verboten. Die Organisationen der Kleingärtner kauften nun selbst Land und konnten sogar einige „Dauerkolonien" durchsetzen. Zunehmend integrierte man die Kleingärten in die Stadtplanung. Durch diese Etablierung nahmen die Kolonien mehr und mehr die Gestalt an, die sie heute haben. In der Weimarer Republik waren sie aber noch fester Bestandteil der Arbeiterbewegung, aus der heraus auch Kritik an den Laubenpiepern kam. Ein Herr Stechert bemerkt 1930 in einem Aufsatz mit dem Titel „Die Villen der Proletarier": „Die Jugend soll sich nicht nur einen Schrebergarten, sondern sie soll sich die Welt erobern. Der Schrebergarten macht die Jugend engstirnig, fesselt sie an einen Ort, macht sie aber nicht reif zu großen Kämpfen." Außerdem stellt er fest, daß für manchen Arbeiter der Schrebergarten die Fortsetzung der Fabrikarbeit geworden sei, und widerspricht der Behauptung, Schrebergärten würden „tiefe seelische Eindrücke" in der Natur ermöglichen: „Die Laubenkolonien sind allgemein wahrhaftig nicht dort, wo die Natur reizend ist, sondern sie sind meist Inseln im Häusermeer."

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten war die große Zeit der Laubenpieper vorbei. Einerseits integrierten die Nazis die Organisationen der Kleingärter, andererseits waren ihnen die Laubenkolonien selbst viel zu unübersichtlich. Tatsächlich konnten sich einige Verfolgte hier verbergen. Nach dem Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs schwollen die Kolonien stark an. Wie schon während und nach dem vorherigen Krieg, sicherten die Kleingärten einen wesentlichen Teil der Lebensmittelversorgung der Stadt. Es kam auch zu Plünderungen von Kartoffeläckern. Neben den alten Laubenpiepern zogen nun viele wohnungslose „Behelfsheimer" in die Kolonien, in denen nun das Dauerwohnen vorläufig erlaubt war.

Im Zuge der wirtschaftlichen Erholung verloren die Kleingärten wieder an Bedeutung, sie wurden mehr und mehr von Industrie, Wohnungs- oder Straßenbau zurückgedrängt. Seit Mitte der sechziger Jahre veränderte sich vor allem in Westberlin auch der Charakter der Laubensiedlungen. Statt Gemüse und Kartoffeln sieht man nun Zierrasen und andere Zierpflanzen. Auch die soziale Zusammensetzung der Laubenpieper hat sich drastisch geändert: Während einst fast alle Kleingärtner Arbeiter waren, bilden diese heute nur noch eine Minderheit. Die meisten sind jetzt Angestellte und Beamte. Aber auch diese haben es immer wieder verstanden, Widerstand gegen drohende Abrisse ihrer Anlagen zu organisieren. Dabei benutzen sie heute hauptsächlich ökologische Argumente oder berufen sich auf das Gemeinwohl. Man mag ihnen ihre Gärten ja gönnen, aber im Sinne des Gemeinwohls müßten sie zuerst ihre Zäune einreißen.

Dirk Rudolph

 
 
 
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