Ausgabe 06 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Skandal und Formalismus

Film als Film: die Wiener Avantgarde der sechziger Jahre

Peter Weibel, der Direktor des Multimedia-Tempels ZKM in Karlsruhe, war in den sechziger Jahren Teil einer aufstrebenden jungen Wiener Filmavantgarde. Heute phantasiert der Promotor der jeweils neuesten virtuellen Pfingstwunder von einem interaktiven Kino, bei dem der Konsument in die Lage versetzt werde, Einfluß auf das filmische Geschehen zu nehmen, das sich natürlich im dreidimensionalen Raum abspielen werde: Erweitertes Kino – das war einmal anders gemeint, stand für nicht-kommerziellen filmischen Underground und nicht für die Computerspiele der schönen neuen Medien.

In den sechziger Jahren formierte sich in Wien die 2. Generation einer filmischen Nachkriegsavantgarde nämlich, die der um 1940 Geborenen: Weibel, Ernst Schmidt, Valie Export und Hans Scheugl, der nun als Chronist dieser Bewegung auftritt. Als Bindeglied zur Generation der bereits in den Fünfzigern Hervorgetretenen fungierte Kurt Kren (1929-1998). Trotz oder vielleicht gerade wegen der nicht vorhandenen Filmkultur im damaligen Österreich ­ Filme wie Erzherzog Johanns große Liebe waren Publikumserfolge der heimischen Filmindustrie ­ schlossen sich die „Wenigen, die den Film als künstlerisches Medium benützen wollten" zusammen.

Im Medium Film waren, vereinfacht gesprochen, bereits zu Beginn zwei Optionen angelegt: Es konnte zur Industrialisierung des Theaters dienen; abgefilmte Schauspielerei konnte nun ein Massenpublikum erreichen. Oder aber man nahm das Medium als neue visuelle Ausdrucksmöglichkeit ernst. Für die eine Option steht die Filmindustrie, die andere erlebte im Wien der fünfziger und sechziger Jahre eine Blütezeit. Peter Weibel formulierte 1967 in einem Manifest: „Der Filmemacher arbeitet mit Zelluloidstreifen und nicht mit Wirklichkeiten. Was auf dem Zelluloid ist, ist Sache des Filmemachers. Er kann darauf direkt arbeiten oder mit Hilfe der Kamera." Einen ersten Höhe- und Endpunkt des „metrischen Films" bedeutete Peter Kubelkas Arnulf Rainer (1958/60), in dem sich schwarze und weiße Kader sowie Stille und „weißes Rauschen", in eine musikalisch-serielle Abfolge gebracht, abwechseln.

Im selbstgenügsamen Formalismus sind diese Filmemacher aber nicht stehengeblieben. Vor allem Valie Export und Peter Weibel erweiterten das Medium mit ihren Aktionen im und außerhalb des Kinosaals auf ganz andere Weise. Exports „Tapp- und Tastkino", bei dem Passanten die in einer Box (einem „Kinosaal") verborgenen Brüste der Filmemacherin begrapschen durften, ist dafür nur das bekannteste Beispiel, während Scheugl mit zzz: hamburg special (1968) den letzten Film der Filmgeschichte gedreht haben wollte: Anstelle eines Films läuft Zwirn durch den Projektor. Jedenfalls waren die Wiener in den Sechzigern allemal gut für Skandale; „Wieder Tumulte bei Jungfilmern" lautet eine zeittypische Schlagzeile einer Wiener Zeitung.

Galten in der Bundesrepublik die Unterzeichner des „Oberhausener Manifests" als aufmüpfige Nachwuchskräfte, so ging das den Wiener Filmemachern, deren Werke in Oberhausen keine Gnade fanden, nicht weit genug. Man wehrte sich gegen die deutschen Autorenfilmer und die „Semi-Avantgarde" eines Godard, Resnais oder Fellini, die eine fortschrittliche Position nur „innerhalb der kommerziellen Produktion" behaupten können.

Eines kann man dieser Avantgarde retrospektiv nicht vorwerfen: In auf den Markt schielenden Kompromiß und Selbstauslöschung ist sie nicht verendet. Ihre Protagonisten drehen heute entweder gar keine Filme mehr (Weibel), oder sind bis zuletzt konsequent kompromißlos geblieben (Kren). Gegen die besten dieser Filme jedenfalls sehen der neueste Zinnober aus Karlsruhe oder die Effekte heutiger Videoclips ziemlich alt aus. Hans Scheugls Verdienst ist es, in seinem reich bebilderten und mit einer Filmographie aufwartenden Buch die Basisdaten über diese filmisch bewegten Jahre in Wien bereitzustellen. Eine fundierte Interpretation werden andere leisten müssen.

Florian Neuner

> Hans Scheugl: Erweitertes Kino. Die Wiener Filme der 60er Jahre. Triton Verlag, Wien 2002. 26 Euro

 
 
 
Ausgabe 06 - 2003 © scheinschlag 2003