Ausgabe 06 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Preußen gut?

Der Sammelband Preußens Toleranz als Nachtrag zum Preußenjahr

Vor 302 Jahren erklärte sich Preußen zur Großmacht; vor zwei Jahren wurde der – hoffentlich letzte – organisierte Versuch unternommen, dem etwas Positives abzugewinnen. Dazu reaktivierte das „Preußenjahr 2001" vor allem alte Legenden, etwa die These, der aggressive, autoritäre und insgesamt reaktionäre Obrigkeitsstaat, dessen Reste 1945 von den Alliierten abgeräumt wurden, sei ungewöhnlich tolerant gewesen. Der Band Preußens Toleranz versammelt von der staatstragenden Ministerpräsidentenrede über geschichtswissenschaftliche Vorträge bis zu kontroversen Podiumsdiskussionen alles, was zu diesem Thema gesagt wurde.

Schon die Umschlaggestaltung ist widersprüchlich: Das seltsame Begriffspaar des Titels erscheint horizontal gespiegelt noch einmal, aber diesmal mit Fragezeichen:„Preußens Toleranz?" Hat hier ein kritischer Grafiker interveniert? Oder war der ursprüngliche Titel als Frage formuliert und wurde im letzten Moment geändert, weil er den Geldgebern nicht gefiel? Dem Impressum ist zu entnehmen, daß jener Manfred Stolpe, der sein Bundesland in „Preußen" umbenennen wollte, für die Veröffentlichung nicht nur seinen Redenschreiber in Bewegung setzte, sondern auch „Lottomittel des Ministerpräsidenten" springen ließ.

Der Verdacht, Preußens Toleranz sei ein historisches Gefälligkeitsgutachten, verfliegt schnell. Der Sammelband will nicht werben, sondern aufklären. Die Autoren bemühen sich redlich, komplexe Phänomene ­ etwa die zyklisch wiederkehrende Verfolgung der Juden, die Kolonisierung der polnischen Westgebiete oder die Vorgeschichte des „Kulturkampfes" gegen den Katholizismus ­ präzise und vorurteilsfrei zu erklären. Besondere Aufmerksamkeit genießt der Gründungsmythos des preußischen Bürgertums: die Integration der Hugenotten, die wegen ihrer extremen Privilegien den Einheimischen über Jahrhunderte verhaßt waren und sich mit artiger Loyalität den Schutz der Obrigkeit erkaufen mußten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden sie die „besten Preussen" genannt; die Nazis billigten ihnen den Status reinen „Germanentums" zu, und wenn man heutzutage ­ wie meinem Bruder geschehen ­ als „Hugenottensau" Prügel angedroht bekommt, kann das als lächerliche Ausnahme gelten.

An einigen Stellen gelingt Preußens Toleranz der Sprung zur Aktualität. So gleitet im Teil „Vorträge und Diskussionen" eine Podiumsdiskussion zur preussischen Einwanderungspolitik in eine Debatte über das türkische Berlin ab. Im Teil „Interkulturelle Aktivitäten" meint Amir Mohammed Herzog begründen zu müssen, warum er Deutscher und „trotzdem" Muslim ist. Und Moishe Waks hält in einem Beitrag für die Jüdische Gemeinde Berlin die Ermahnung für nötig, den Fremden nicht zur Anpassung zu zwingen, sondern „bei sich so aufzunehmen, wie er ist".

Leider enthält der Band auch allerlei Gedichte und fremdländische Kochrezepte, die mit Toleranz wenig und mit Preußen gar nichts zu tun haben. Praktisch und sinnvoll hingegen der „Stadtrundgang auf verwehten Spuren im Zentrum Berlins". Hier erfährt man, daß auch die hauptstadttouristisch ausgiebig durchgekauten Orte der Stadt – Gendarmenmarkt, Nikolaiviertel oder Berliner Dom – mehr zu erzählen haben als nur die ollen Kamellen von Preußens Gloria. Nur der Schloßplatz, wo das kaiserliche Preußen demnächst wieder nachgebaut werden soll, bleibt ausgespart.

Johannes Touché

> Michael Drechsler (Hg.): Preußens Toleranz. Zur Integration von Minderheiten in Geschichte und Gegenwart. Museumspädagogischer Dienst Berlin, 2002. 10 Euro

 
 
 
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