Ausgabe 06 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Dawaj Dawaj Rabotaj

Der geringste Auflauf, welcher aus der geringfügigsten Veranlassung entsteht, kann unzuberechnende Folgen haben, an die die Anstifter und Teilnehmer desselben nicht auf die entfernteste Weise dachten. Ein einziger unruhiger Kopf kann den vielleicht nur aus Neugier zusammengelaufenen Haufen in Bewegung setzen und zu Unternehmungen führen, die die gemeine und private Sicherheit in Gefahr bringen und bei kaltem Blute von jedem einzelnen Teilnehmer selbst verabscheuet werden.

Friedrich Wilhelm III., 1798

Es scheint ein Wettbewerb ausgelobt worden zu sein, der diejenigen Vorschläge prämiert, die am rüpelhaftesten mit allem umspringen, was auch nur entfernt nach Sozialstaat riecht. Man überbietet sich fast täglich in den Geldbeträgen, die man den Arbeitslosen gerne wegnähme, oder in der Zeit, die unbedingt mehr gearbeitet werden müsse. Die Hofschranzen in den meinungsbildenden Blättern sind immer mit der passenden Statistik dabei und schaffen es sogar nachzuweisen, daß in Deutschland am wenigsten gearbeitet wird. Niemand sonst auf der Welt käme wohl auf die Idee, ausgerechnet den Deutschen eine zu lasche Arbeitsmoral vorzuwerfen. Die Offenheit, mit der man sich derzeit daran macht, die Lebensbedingungen von mehreren Millionen Menschen nachhaltig zu verschlechtern, macht deutlich, daß es in Zukunft kein staatliches Versprechen auf ein schönes Leben mehr geben wird. Man scheint sich in den Chefetagen von Staat und Wirtschaft sehr sicher zu fühlen. Offenbar hat man verdrängt, daß es die überzeugenderen Verführungskünste des Kapitalismus waren, die ihn im Systemstreit vor knapp anderthalb Jahrzehnten übrig bleiben ließen.

Es könnte gut sein, daß sich die staatliche Antwort auf die soziale Frage künftig auf den Bau von Gefängnissen beschränkt. Die eine Hälfte der jetzt Arbeitslosen könnte so die andere in Schach halten. Es ist wohl kaum damit zu rechnen, daß es plötzlich Arbeitsplätze regnet, die dazu auch noch angemessen bezahlt werden. Wer durch die gröberen Maschen des sozialen Netzes fällt, wird sich also nach alternativen Einkommensquellen umsehen müssen. Die naheliegendsten sind da naturgemäß Diebstahl, Einbruch oder Raubüberfall. Bei Lichte betrachtet handeln deshalb die als besonders blöd geltenden Neuköllner Hauptschüler überaus klug, wenn sie, statt zur Schule zu gehen und sich für einen Job als Abschmecker in der Klärgrube zu qualifizieren, sich lieber mit ihren Freunden treffen und sich schon mal aufs wahre Leben vorbereiten, indem sie ihre ersten Brüche durchziehen oder in den Drogenhandel einsteigen.

Auf diese Gedanken könnten auch andere Bevölkerungsgruppen kommen. Was werden wohl die konsumgeilen Mittelstandsgören machen, die ihr Leben lang alles in den Arsch gesteckt bekamen, wenn sie feststellen, daß gar nicht alle auf einmal Karriere machen und ihre Konsumbedürfnisse befriedigen können. Die Verführungskraft der Werbung prallt schließlich nicht allein dadurch an einem ab, daß man kein Geld mehr hat. Sie könnten auf die Idee verfallen, nicht nur einmal im Jahr, am 1. Mai, alles sinnlos kaputt zu hauen, sondern öfter diese Umstände zu inszenieren und nebenher den einen oder anderen Elektronikfachmarkt oder Klamottenladen zu öffnen. Im Prinzip ließe sich jede Massenveranstaltung zu diesem Zwecke umfunktionieren.

Selbst im Dunstkreis der politischen Linken kommt man inzwischen wieder auf die Idee, direkte Aneignung zu propagieren, statt Schmalspurpolitiker nachzuäffen und als Forderung verklärte Bitten an die Bundesregierung oder sonstwen zu stellen. Die „Berlin-Umsonst-Kampagne" sieht sich dabei ganz selbstbewußt als eigenständigen Beitrag zu einer Kampagne gegen Sozialabbau, die im Begriff ist, sich zu formieren. Falls es in der nächsten Zeit tatsächlich zu größeren Demonstrationen kommen sollte, finden sich sicherlich auch ein paar Heißsporne, denen die Redebeiträge zu langweilig sind und die lieber alles kaputthauen möchten. Und vielleicht wird diese günstige Gelegenheit auch zur Selbstbedienung genutzt.

Søren Jansen

Zum Interview mit Initiatoren der Kampagne „Berlin Umsonst"

 
 
 
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