Ausgabe 05 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Kleinfamilienkopien

Eigentlich können wir ja ganz zufrieden sein. Zumindest meinen das viele Schwule und Lesben. Berlin hat einen schwulen Bürgermeister, der das im Gegensatz zu anderen Kollegen sogar zugibt, mehr noch: Seine Homosexualität ist das einzige Markenzeichen dieses farb- und ideenlosen Parteisoldaten. Der alljährliche Christopher Street Day (CSD) ist ein fröhliches Spektakel, an dem nicht nur die gesamte Bevölkerung, sondern auch der Tourismusverband seine Freude hat – so politisch wie die Love Parade. Und die Grünen haben neben dem Dosenpfand mit der „Homo-Ehe" noch ein zweites bahnbrechendes Projekt zumindest in verwässerter Form durchgebracht. Daß mit der eingetragenen Partnerschaft in ihrer gegenwärtigen Form mehr Pflichten als Rechte verbunden sind, ficht da niemanden an. Und das Adoptionsrecht wird eines Tages schon noch folgen.

Emanzipation light: Der schwule Mainstream, wie er sich in den überall in der Stadt ausliegenden Werbeblättchen Siegessäule und Sergej manifestiert, jubelt über jede Firma, die sich mit einem Werbespot der ja bekanntlich so zahlungskräftigen Klientel anbiedert, gerät in Verzückung über jedes Homo-Pärchen, das in einer Vorabend-Soap auftreten darf. So kann Emanzipation auch gehen! Da muß man doch nicht auf die bösen gesellschaftskritischen Parolen der Siebziger zurückkommen, die abweichende Sexualität nicht als Lifestyle, sondern als Politik begriffen haben. Wenn wir schön brav sind und unter Beweis stellen, daß wir genauso bieder wie die Mehrheit der Bevölkerung in schlechten Kleinfamilienkopien leben können, was sollte man dann noch gegen uns einwenden?

Unsere „schwulen Väter" hätten sich vor 30 Jahren wahrscheinlich an den Kopf gegriffen, hätte man ihnen prophezeit, die Reste dessen, was einmal eine Schwulenbewegung war, würden zur Jahrtausendwende eine Art Schmalspur-Ehe zu ihrem höchsten po-litischen Ziel erklären; Anpassung, vor-auseilender Gehorsam. Die selbsternannten, in der rot-grünen Mitte angekommenen Schwulen- und Lesbenvertreter wenden ein, wer nicht wolle, der müsse ja gar nicht heiraten. Wohl wahr, und nur eine verschwindende Minderheit von Homosexuellen hat von diesem „Recht" bisher ja auch Gebrauch gemacht. Warum dann das ganze Gedöns?

Es geht darum, die Grenze zwischen angepaßten, verheirateten Mainstream-Homosexuellen und denen zu befestigen, deren sexuell-abweichendes Verhalten oder Vorstellungen von Zusammenleben man eben doch nicht bereit ist zu akzeptieren. Nach wie vor ist die „sexuelle Rangordnung" in Kraft, die Gayle S. Rubin vor bald 20 Jahren beschrieben hat, mehr noch: Sie wird weiter zementiert. Demnach ist heterosexueller Sex „besser" als homosexueller, Sex in Beziehungen und in Paaren erwünschter als mit wechselnden Partnern oder in Gruppen, zu Hause anerkannter als in der Öffentlichkeit, soll „sauber" sein und nicht in Sadomasochismus ausarten. Der neue schwule Biedermann möchte da in möglichst vielen Punkten mit der „Normalität" gleichziehen. Welche Folgen das hat, kann man in Skandinavien besichtigen, wo die „Homo-Ehe" schon vor zehn Jahren eingeführt ward: Die Saunen und Darkrooms, die Orte für anonymen, schnellen Sex, sind dort weitgehend verschwunden. In Stockholm sind sie kein akzeptierter Teil der Szene wie in Berlin.

Die kleine schwule Welt, die in Berlin größer ist als anderswo, und vom schwulen Tauchverein bis zur Pißparty, für schwule Eisenbahn- ebenso wie für Gummifetischisten alles zu bieten hat, verstellt den Blick auf das Außerhalb, sei es den gesellschaftspolitischen Kontext, sei es die Provinz, wo homosexuelle Jugendliche noch immer alleingelassen sind, in die Verzweiflung getrieben werden, wenn nicht in den Suizid. Ein Markt, der eine bestimmte Klientel bedient, wird mit Freiheiten verwechselt.

Worum es eigentlich gehen würde? Doch darum, ohne Furcht anders sein zu können, wie Theodor W. Adorno einst schrieb.

Florian Neuner

 
 
 
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