Ausgabe 04 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Ich komme zu einer immer größeren Komplexion

Schmaler, geradliniger Weg: Der Komponist Paul-Heinz Dittrich über seinen künstlerischen Werdegang

Paul-Heinz Dittrich, geb. 1930, unterrichtete nach Studien in Leipzig und Berlin von 1960-76 an der Musikhochschule „Hanns Eisler" in Berlin, lebte danach als freischaffender Komponist in Zeuthen und war nach 1991 Professor für Komposition an der Eisler-Hochschule. Werkauswahl: Die anonyme Stimme (1972), I. Konzert für Violoncello und Orchester (1974/75), Engführung (1981), ETYM (1981/82), Poesien (in Arbeit). scheinschlag besuchte den Komponisten in Zeuthen.

Als junger Student ging ich nach Leipzig. Die Leipziger Musikhochschule ist aus heutiger Sicht, das habe ich damals nicht gewußt und nicht so gesehen, ein recht konservativer Betrieb gewesen. Das hatte aber auch Vorteile. Ich habe in Leipzig sehr viel Handwerk gelernt. Ich kam aus einem kleinen Erzgebirgsdorf und habe bei einem Kantor mehr schlecht als recht die Harmonielehre gelernt, habe Choräle von Bach ausgesetzt. Mein Vater war im Krieg gefallen, meine Mutter hätte mir nie das Studium bezahlen können Es war ein Vorzug der DDR, daß Arbeiterkinder dort studieren konnten. Allerdings blieb in Leipzig manches auf der Strecke, man wurde langsam hellhörig und sagte: Da muß es doch mehr geben!

Nun könnte man aus heutiger Sicht sagen: Eigentlich hätte ich die Schule verlassen müssen, als ich auf diese Widersprüche stieß. Ich blieb aber bis zum Examen. Danach kam ich als Meisterschüler an die Akademie der Künste in Berlin. Das war eine Entwicklung, die mir erst mal recht gegeben hat in dem, was ich getan habe. Hätte ich damals, das war ja noch vor 1961, das Land verlassen, hätte ich ganz sicher auch in der Bundesrepublik weiterstudieren können. Das haben ja viele so gemacht.

In Berlin wurde mir dann klar: Du hast in Leipzig vieles verpaßt ­ das heißt, nicht verpaßt, es wurde ja gar nicht angeboten. Es wurde zwar wirklich gut ausgebildet, und es wurden Dinge gelehrt, die mir heute noch sehr dienlich sind. Aber ich wußte nichts von den Entwicklungen in der neuen Musik, ich wußte nichts über Stockhausen, Boulez oder Nono. Ich habe an der Hochschule kaum je den Namen Schönberg gehört. In Berlin kam ich zu Rudolf Wagner-Régeny und zeigte ihm meine Partituren. Der sagte zu mir: „Das ist hochbegabte Musik, was du da schreibst. Aber es ist nicht mehr zeitgemäß." Er schickte mich nach Westberlin, das war ja noch vor dem Mauerbau, um das Buch des Schönberg-Schülers Josef Rufer Die Komposition mit zwölf Tönen zu kaufen. Das hat meine musikalische Sprache verändert.

Nachdem ich 1960 mit diesem Meisterschülerstudium fertig war, hatte ich die ganzen sechziger Jahre nur eine Aufführung in DDR. Ich habe gekämpft. Ich dachte, das gibt es nicht, das kann doch nicht wahr sein. Ich hatte sieben Jahre Komposition studiert, war Mitglied des Komponistenverbandes. Ich habe mich gefragt: Was machst du falsch? Die Widersprüche, in die ich mich verstrickt sah, wurden immer größer. Den Weg, den mir Wagner-Régeny gezeigt hat, konnte ich nicht wieder verlassen. Bis '61 hatte ich zudem die Möglichkeit, in Westberlin Stockhausen, Henze und Nono kennenzulernen.

Ich hatte zum Abschluß bei Wagner-Régeny ein Stück für Bläserquintett, Pentaculum, in Zwölftontechnik geschrieben. Nun war ja Schönberg in der DDR verpönt. Mir wurde deshalb vom Komponistenverband gesagt: Das Pentaculum können wir nicht aufführen. So begann die Leidensgeschichte meiner nicht-aufgeführten Stücke in der DDR. Das war ein strenges Regime, dem man sich entweder unterordnete, oder man stand daneben und war draußen vor der Tür.

Schließlich wurde das Pentaculum 1964 doch aufgeführt, in Schwerin. Das war ein Skandal. In den Zeitungen erschienen Verrisse. Ich war natürlich froh über diese Aufführung, aber sie hat außer Schwierigkeiten nichts gebracht. Man nahm das in Berlin wahr, und es war klar: Entweder ich betätige mich kompositorisch auf einem anderen Feld oder ich kann in der DDR nicht gespielt werden.

Dann ­ ich hatte mittlerweile schon eine ganze Reihe von Stücken in der Schublade ­ wurde ich vom Peters Verlag nach Leipzig bestellt. Ich bin mit einem Koffer voll Partituren im Verlag erschienen und hab das dort auf den Tisch gekippt. Der Cheflektor sagte zu mir: „Gehen sie drei Stunden spazieren, dann sage ich ihnen, ob ja oder nein." Ich kam zurück, und er meinte: „Für diese Stükke gibt es keine Aufführungsmöglichkeiten." Ich bat ihn, mir in einem kurzen Brief zu bestätigen, daß der Verlag keine Verwendung für meine Stücke hat. Das tat er dann auch. Ich wußte nicht, was für einen Fehler er damit beging. Ich ging also mit dem Brief in der Tasche zum Bahnhof. Der Mann läuft mir hinterher und fordert den Brief zurück. Ich sage: „Nein, dann müssen Sie mich in den Verlag aufnehmen." Der Zug ist zum Glück gleich darauf abgefahren. Kurz danach hörte ich, daß dem Mann fristlos gekündigt worden war. Ich fragte mich: Ist das denn so ein Sprengstoff, den du da in deinem Koffer hast? Das kann doch gar nicht sein! Und das hörte ich nun von allen Seiten, alle bliesen in das gleiche Horn: Wir haben keine Verwendung für dich!

In der Humboldt-Universität las ich Anfang der siebziger Jahre in der westdeutschen Musikzeitschrift Melos ­ ausleihen oder gar kaufen konnte man diese Zeitschrift nicht ­ eine Notiz über einen Kompositionswettbewerb in Boswil in der Schweiz. Ich dachte: Wenn man hier keinen Bedarf hat, schicke ich meine Stücke eben in die Schweiz. Schließlich erhielt ich ein Telegramm, mein Stück war in die Endrunde des Wettbewerbs gekommen und sollte aufgeführt werden. Ich stellte also einen Paßantrag, der natürlich sofort abgelehnt wurde. Ich wurde gefragt, wie ich denn mein Stück in die Schweiz gebracht hätte. Ich wußte nicht, daß geistiges Eigentum nicht aus der DDR herausgebracht werden durfte, das gehörte sozusagen dem Vater Staat. Ich meinte: Wenn man mich hier nicht will, muß ich doch woanders anfragen dürfen. Ich habe auch nicht daran gedacht, dorthin zu fahren und dann nicht mehr zurückzukehren.

Im Westfernsehen sah ich kurz darauf eine Bundestagsdebatte. Gegen Willy Brandt war ein Mißtrauensantrag gestellt worden, den er nur knapp abwenden konnte. Nur zehn Minuten später klingelte bei mir das Telephon. Ich sollte zum Kulturministerium kommen und durfte am nächsten Tag in die Schweiz fliegen. Eine Absurdität! Am Flughafen in Zürich wartete auf mich schon Alfred Schlee von der Universal Edition in Wien, der mich gleich unter Vertrag nehmen wollte. Mein Stück bekam dann in Boswil den ersten Preis, und ich hatte plötzlich Geld und Konzerte in Basel, Witten und anderen Städten.

Ich kam wieder zurück wie ein braver Bürger und dachte: Jetzt ist ja alles in bester Ordnung, die sehen ja, daß ich kein Republikflüchtling bin. Meine Rückkehr hat die Schwierigkeiten aber nur verstärkt. Wenn meine Stücke, die dann bei der Universal Edition in Wien erschienen waren, in der DDR aufgeführt worden wären, hätten die DDR-Behörden für mich Devisen zahlen müssen.

Einige Jahre später kam der Peters Verlag erneut. Der zweite Versuch glückte dann auch, in einer politischen Situation, die weitaus günstiger war, als beim ersten Mal. Sie nahmen meine Stücke. Mittlerweile war das Klima offener, es gab z. B. die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler" in Leipzig. Ich bekam schließlich sogar vom Kulturministerium einen Auftrag für mein erstes Cellokonzert. Man hat eingesehen: Wir können den hier nicht ganz links liegen lassen.

Aber die Schwierigkeiten gingen weiter. Ich war Lehrer an der Musikhochschule, für Nebenfächer, Komposition durfte ich nicht unterrichten. 1976 wurde ich von heute auf morgen fristlos entlassen.

Als Ende der siebziger Jahre mein Cellokonzert, nach der Uraufführung an der Komischen Oper Berlin, in Donaueschingen aufgeführt wurde, fragte mich auf einer Pressekonferenz ein Journalist: „Herr Dittrich, Sie werden doch morgen nicht wieder in die DDR zurückreisen?" Mir war klar, bevor ich wieder in Berlin bin, ist die Nachricht dort. Ich habe kurz überlegt und gesagt: „Doch, ich fahre morgen früh wieder zurück. Und wissen Sie warum? Ich möchte gern wiederkommen."

Es gab natürlich schon solche Überlegungen. Ich war viel beim WDR in Köln und hätte wahrscheinlich dort oder an der Musikhochschule eine Stelle gefunden. Aber da hatte ich das Haus in Zeuthen schon, da war meine Frau, da war mein Sohn, da lebte meine Mutter noch.

Für Donaueschingen habe ich auch die Engführung von Paul Celan vertont. Die wurde dort sehr erfolgreich aufgeführt. Ich kam zurück und fragte hier im Komponistenverband an, damals stand das neue Konzerthaus gerade, und die Engführung ist ja ein Stück über den Holocaust. Aber man winkte ab und fragte mich, ob ich nicht eine Karl-Marx-Symphonie schreiben wolle. Ich verehre Karl Marx, aber ich werde keine Symphonie deshalb schreiben! Das ist eine plakative Geschichte, das mache ich nicht. Es mußte das Jahr 1988 kommen, da wurde die Engführung im Konzerthaus doch erstaufgeführt. Von dieser Aufführung entstand dann auch die letzte Digitalaufnahme der Dresdner Philharmoniker in der DDR. Gleichzeitig war das die letzte große Aufführung neuer Musik, die Herbert Kegel vor seinem Suizid dirigiert hat.

Ich lese gerade wieder in der Autobiographie von Heiner Müller, mit dem ich befreundet war. Er hatte noch viel mehr Schwierigkeiten als ich, wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Aber er ist immer eingestanden für dieses Land, weil er dachte, da gibt es viele Dinge zu verteidigen, die richtig und gut sind. Das glaube ich auch. Nicht alles, gewiß nicht.

Nach der Wende war ein Journalist bei mir, den ich gut kannte, der fragte mich: „Wie komponierst du denn jetzt?" Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Wer sagt, im Oktober '89 habe ich noch so komponiert und im Dezember so, ist ein Lügner. Ich habe meine Arbeit getan, deswegen hatte ich doch die Schwierigkeiten. Nur weil die Mauer weg ist, komponiere ich doch nicht anders! Daß mit der Wiedervereinigung Dinge eingetreten sind, die nicht immer schön sind ­ und für mich schon gar nicht ­ ist eine andere Frage.

Das Komponieren hat sich in den neunziger Jahren durchaus verändert, die musikalische Struktur hat sich immer mehr verdichtet. Das ist aber vielleicht ein Prozeß, der sonst auch gekommen wäre. Ich komme zu einer immer größeren Komplexion. Das Komponieren wird für mich immer dichter, immer gedrängter, immer enger. Es ist wie das Auspressen einer Zitrone, ein In-die-Mangel-Nehmen. Ich will das, was ich erreicht habe, noch weiter komprimieren. Ich lasse mir eigentlich nur noch eine schmale Straße, aber da sehe ich noch kein Licht am Ende des Tunnels. Diese Verdichtung benutze ich, um einen musikalisch hochentwickelten emotionalen Ausdruck zu erreichen, der die Menschen anspricht. Das ist das Ziel, das ich in allen meinen Stücken vor Augen habe. Ich stelle die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz. Ich schreibe nicht nur für mich. Ich tu's ja für andere. Ich will das nicht in den luftleeren Raum hineinprojizieren. Ich möchte gehört werden.

Es gibt ja auch den gegenteiligen Trend, daß viele junge Leute wieder in die Vereinfachung gehen, um möglichst viele Leute zu erreichen. Ich sage dann, das habe ich alles schon hinter mir. In der DDR wollte man eine solche Volksverbundenheit in der Kunst haben. Für mich geht das nicht. Ich wende mich nicht an den Bauern oder den Arbeiter, aber ich wende mich damit auch nicht von ihnen ab.

Interview: Florian Neuner

Fotos von Jörg Gruneberg zu diesem Artikel finden Sie hier ...

> Im PFAU-Verlag, Saarbrücken, erscheint demnächst von Paul-Heinz Dittrich: „Nie vollendbare poetische Anstrengung". Texte zur Musik 1957-1999.

> CDs von Paul-Heinz Dittrich:
Engführung. Dresdner Philharmonie, Herbert Kegel. BERLIN Classics 0013052BC.

Concert avec plusieurs instruments Nr. IV, Action-Reaction, ETYM. Bruno Canino, Burkhard Glaetzner, Zoltán Peskó u.a. wergo WER 6269-2

 
 
 
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