Ausgabe 04 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Zwiespältige Reformen

Die Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär

Im Juli diesen Jahres treten neue Wehrdienst-Einberufungskriterien in Kraft: Danach werden nur noch Männer bis zum 23. Lebensjahr – statt wie bisher bis zum 25. – eingezogen. Auf Tauglichkeitsstufe 3 (T3) Gemusterte will die Bundeswehr nur noch einberufen, wenn Bedarf an qualifiziertem Personal besteht. Verheiratete und eingetragene Lebensgemeinschaften sind ganz aus dem Schneider. Menschen mit Fachhochschulreife oder Abitur, die bereits über einen Ausbildungsvertrag verfügen, werden zurückgestellt, können aber nach Beendigung ihrer Ausbildung noch bis zum 25. Lebensjahr zur Armee geladen werden. Und da laut Koalititonsverhandlungen vom vergangenen Jahr die Anzahl der Zivildienststellen an die der Grundwehrdienstposten angeglichen werden soll, werden T3-Gemusterte ab Mitte des Jahres generell vom Ersatzdienst befreit.

Für die Kampagne gegen Wehrplicht, Zwangsdienste und Militär scheint diese Reform nur oberflächlich betrachtet ein Erfolg, auch wenn künftig erheblich weniger Menschen Zwangsdienste leisten müssen. Im Jahre 2006 sollen nach derzeitigen Plänen nur noch 53000 Wehrpflichtige eingezogen werden – im letzten Jahr waren es noch 125000 – allerdings kann von einer Abrüstung kaum die Rede sein. Schließlich sollen diesen Grundwehrdienstleistenden immer noch 284000 Berufssoldaten zur Seite stehen. Zwar waren es Ende der achtziger Jahre noch 430000, doch damals war auch die Zeit der Massenarmeen und des Kalten Krieges. Und von einer ernstzunehmenden militärischen Bedrohung des Bundesgebietes geht derzeit nicht einmal das Verteidigungsministerium aus.

So kann die Neuregelung der Einberufungskriterien als Teil der bereits unter Scharping begonnenen und von Struck beschleunigten Reform der Bundeswehr verstanden werden, die weniger die Effektivierung der Landesverteidigung, denn die Umrüstung der Bundeswehr zur Interventionsarmee zum Ziel hat. Und wie groß dabei der Anteil der Wehrpflichtigen ist, erscheint Ralf Siemens, Sprecher der Kampagne, unerheblich, sollen diese doch nach einer politischen Weisung derzeit ohnehin nicht zu Auslandseinsätzen mitgenommen werden. Solange noch ein Großteil der männlichen Jugend zum Wehrdienst verpflichtet ist, wären Bilder von Wehrpflichtigen in Zinksärgen politisch nicht opportun.

Die letzten Jahre haben gezeigt, daß die Akzeptanz der Wehrpflicht in der Bevölkerung stetig abnimmt. Mittlerweile stellt über ein Drittel aller Wehrpflichtigen Antrag auf Ersatzdienst, und immer mehr Jugendliche versuchen, mit Hilfe von juristischen Schlichen der Einberufung zu entgehen. Die deutliche Abkehr vom Repressionskurs gegen Kriegsdienstverweigerer und die Einführung weiterer Ausnahmeklauseln, die eine Einberufung verhindern, ist keiner antimilitaristischen Strömung zu verdanken, sondern nach Einschätzung Siemens' der Absicht, Menschen mit kritischem Potential möglichst aus der Bundeswehr herauszuhalten. Laut einem Vorschlag für die Koalitionsverhandlungen wünscht sich der Führungsstab der Streitkräfte, die gesamte Truppe für den sogenannten Kriseneinsatz einplanen zu können. Dazu muß erst der deutlichen Abnahme der Bereitschaft, für sein Vaterland zu dienen, Rechnung getragen werden, so daß nur noch diejenigen bei der Bundeswehr landen, die im großen und ganzen damit einverstanden sind. Und nicht zuletzt können die eingezogenen Gelder für auslandseinsatztaugliche Technik und Ausbildung genutzt werden.

Die Neuregelung der Einberufungskriterien erfüllt nicht nur den Zweck, die Wehrpflicht an die angestrebte Interventionsarmee anzupassen, sondern soll auch einen Mißstand beheben: Trotz einer zunehmenden Anzahl von Kriegsdienstverweigerungen standen in den letzten Jahren mehr Wehrpflichtige zur Verfügung, als Dienstposten in der Bundeswehr vorhanden waren. So war es eine gängige Praxis der Kreiswehrersatzämter, nach Zufallsprinzip einige Wehrpflichtige zu informieren, daß sie nicht mehr mit einer Einberufung rechnen müssen, während andere sogar mitten aus dem Beruf oder Studium gerissen wurden, kurz bevor sie die Einberufungsaltersgrenze erreicht hatten.

Durch das Unterlaufen der Wehrgerechtigkeit im Sinne des Grundgesetzes sah sich das Verteidungsministerium zum Handeln gezwungen. In Zukunft sollen alle zur Verfügung stehenden Wehrpflichtigen auch dienen können. Wenn also über 35 Prozent eines Jahrgangs allein aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert werden, zusätzlich zu denjenigen, die durch weitere Ausnahmeklauseln von der Wehrpflicht befreit sind, bedeuten die Neuregelungen für alle anderen, daß es um so schwieriger sein wird, der Einberufung zu entgehen. Was für die einen einen Berfreiungsschlag darstellt, wird nach Einschätzung der Kampagne zu mehr Härtefällen für andere führen.

Der Kampagne steht also gerade jetzt viel Arbeit ins Haus. Sie finanziert sich ausschließlich durch Spenden und Vereinsmitgliedsbeiträge. Gegründet wurde sie 1990, als es nicht mehr ausreichte, eine Westberliner Meldeadresse anzugeben, um der Einberufung zu entgehen. Sie eröffnete ihr Büro zunächst in der Geschäftstelle der Berliner Bündnisgrünen in der Oranienstrasse, zog aber wieder aus, als die Grünen zwar weiterhin für die Abschaffung der Wehrpflicht, aber gleichzeitig für den Krieg in Jugoslawien warben – schließlich wollte man sich nicht als antimilitaristisches Feigenblatt mißbrauchen lassen.

Neben der regulären Beratung Wehrpflichtiger aus Deutschland, aus der Türkei und aus Griechenland, Hilfestellung für Deserteure aus anderen Armeen, Aktionen wie die im März stattgefundene Blockade des Einsatzführungskommando in Geltow bei Potsdam, geht es der Kampagne jetzt insbesondere darum, sich aktiv in die laufende Diskussion um die Wehrpflicht einzumischen. Um Planungssicherheit zu gewinnen, soll diese Debatte nach Wunsch Strucks schon Ende des Jahres beendet werden. Gerade jetzt wäre es also an der Zeit, sich gegen Einberufungen zu wehren, um zumindest deren Kosten in die Höhe zu treiben und so den Wehrpflichtsgegnern weitere Argumente zu liefern.

Katrin Scharnweber

> Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär, Kopenhagener Str. 71, Prenzlauer Berg, Mo bis Fr 10 bis 18 Uhr, Überblicksveranstaltung jeden Di um 17:30 Uhr, fon 4401300, infos unter: www.kampagne.de

 
 
 
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