Ausgabe 04 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Beschleunigte Entschleunigung

Die Bewohner der Spandauer Vorstadt machen es sich gemütlich. Das Gebiet zwischen Hackeschem Markt und Torstraße, das sich zu einem der Zentren Berlins entwickelt hat und seit einigen Jahren immer heftiger von Autoverkehr heimgesucht wird, soll ruhiger werden. Im letzten Jahr ging man den motorisierten Mitbürgern mit Parkraumbewirtschaftung und zeitweiser Sperrung der Rosenthaler Straße auf die Nerven, jetzt soll der ganze Kiez „entschleunigt" werden. Nach dieser Vorgabe haben die Behörden ein „Verkehrskonzept Spandauer Vorstadt" in Auftrag gegeben, das am 10. April nach zehnjähriger Vorarbeit vorgestellt wurde.

Obwohl die von vielen befürchtete Fußgängerzone am Hackeschen Markt vom Tisch ist, ist das Papier für temperamentvolle Autofahrer keine gute Nachricht: Auf nahezu allen Hauptstraßen gilt Tempo 30, auf Nebenstraßen Tempo 10; einige werden sogar zu „Fahrradstrassen" gemacht, wo nur noch Anlieger Auto fahren dürfen.

Die Einschränkungen gelten allerdings nicht ab sofort. Erst werden die Fahrbahnen mit steinernen Pollern und Fahrradbügeln bestückt sowie an den Kreuzungsbereichen neu gepflastert und verengt, insbesondere dort, wo Straßen in das Gebiet hineinführen. An diesen Stellen, für die sich der Ausdruck „Einfallstore" eingebürgert hat, fallen auch Abbiegespuren weg. Damit auch der letzte Autofahrer kapiert, daß dieser Kiez ihn nur Zeit kosten wird, soll die Wegweisung auch in der weiteren Umgebung verändert werden.

Umbauten kosten natürlich Geld, und daß die Planer das bedacht haben, ist ihr größtes Verdienst. Das Konzept ist kein weiterer perfektionistischer, aber unbezahlbarer Generalplan, wie sie zu Dutzenden in den Schubladen der Hauptstadtplaner vergilben. Das hat zwei Gründe: Erstens bestand der Denkmalschutz auf gestalterischer Zurückhaltung, um den Charakter des „Flächendenkmals Spandauer Vorstadt" nicht zu sehr zu verändern. Und zweitens haben nun auch die Stadtplaner begriffen, daß Berlin keine reiche Stadt ist. Das Konzept soll stufenweise verwirklicht werden und hat keinen eigenen Haushaltsposten; die Verkehrspolitiker müssen also die notwendigen Mittel aus allen möglichen Fördertöpfen zusammenklauben. Letztendlich ist das Konzept also nur ein Vorschlag, wie man die Baumaßnahmen, die ohnehin stattfinden, koordinieren und beschleunigen kann.

Inwieweit das Konzept in den nächsten Jahren auch befolgt wird, bleibt abzuwarten. Bezirksamt, Senat und sogar die Industrie- und Handelskammer haben zugestimmt, die Proteste der Autolobby und der örtlichen Gewerbetreibenden blieben matt. Aber die Grundfrage ist noch nicht endgültig entschieden. Was soll die Spandauer Vorstadt sein: ein gemütlicher, ruhiger Kiez oder das brodelnde Zentrum der Großstadt?

Otto Witte

 
 
 
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