Ausgabe 03 - 2003

berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

In Funktionsgewittern

Zwischen Trabant und Ampelmännchen: nationales Kulturerbe Plattenbau

Der Kleine Muck unternahm 1964 eine Besichtigungstour zu den Errungenschaften der DDR. Staunend den Erläuterungen seiner Begleiter lauschend, erschauerte er, als ein stählernes Ungeheuer auf einer Baustelle daran ging, riesige Platten zu einem Wohnblock aufzuschichten. „Soll dies eine Festung sein?" Der Maurer lächelte und sagte: „Nein!" Vielleicht schenkten die jungen Leser der Kinderzeitschrift Frösi dem Maurer damals ihr Vertrauen. Im Furor von 1989 erlebten sie als Erwachsene schließlich ein befreiendes Déjà-vu. Denn der Überlieferung zufolge gipfelten die revolutionären Forderungen zu jener Zeit nicht etwa darin, die Oberen an ihren Fahnenstangen aufzuknüpfen oder einzuknasten. Nein, im Plattenbau sollten sie wohnen, Küche ohne Fenster. So wie alle anderen auch, in Festungshaft.

Physisches Unbehagen verband auch Brigitte Reimann mit dem industriellen Wohnungsbau. Hoy kranke an mangelnder Intimität und Atmosphäre, klagte sie über ihr Hoyerswerda. Ihr posthum erschienener Roman Franziska Linkerhand gibt Auskunft darüber, wie Lebensgefühl und Seelenbildung mit einer Stadt der Typenbauten zusammengehen. Wertvolle Anregungen und Zuspruch erhielt die Schriftstellerin von einem der einflußreichsten Baukünstler der DDR. Hermann Henselmann machte im Briefwechsel mit Reimann aus seiner Enttäuschung über die eingeschlagene Richtung im Städtebau keinen Hehl. „Kann man nicht unsere sozialistische Heimat so gestalten, daß man nach ihren Städten Heimweh empfinden kann?", zweifelte der Chefarchitekt des Magistrats von Berlin angesichts der Aufgabe, den neuen sozialistischen Menschen mittels der gebauten Umwelt zu prägen.

Die Kernstaatstheorie verpflichtete die junge DDR zunächst auf eine Architekturpolitik der nationalen Traditionen, um nach innen nationale Einheit und nach außen nationale Souveränität zu demonstrieren. Dazu wurde eine revolutionäre Verwandtschaft zwischen Klassizismus und Sozialismus bemüht, da beide in einer Zeit Konturen angenommen hätten, in der eine neue Gesellschaftsordnung die als überlebt betrachtete vorherige ablöste. Also geriet der klassizistische Baustil zum „Hofstil" ­ bis zur Tauwetterperiode Ende der fünfziger Jahre, als sich die DDR zur gegliederten und aufgelockerten Stadt moderner Prägung bekannte. Zwar wichen schmückende Fassaden und traditionelles Bauhandwerk nun den Prämissen eines industriellen Wohnungsbaus, doch blieb das Bauwesen in nationaler Kontinuität den preußischen Tugenden von Schlichtheit, Sparsamkeit, Perfektion, Funktion und Gehorsam verhaftet. Zugespitzt formuliert: In dem Maße, wie sich die Bundesrepublik architektonisch international gab, verwaltete die DDR das nationale Erbe.

In den siebziger Jahren erstarrten Heimat und Seele gleichermaßen zu Beton. Die ingeniöse Wohnungsbauserie 70 (WBS 70) sollte die Wohnungsfrage als soziales Problem endgültig beenden. Nicht wenige der ambitioniert geplanten Neubaugebiete aus dem Katalog der Baukombinate mutierten jedoch zu einem Funktionsgewitter stumpfsinnig ausgespiener Bauklötze. Im kollektiven Gefühlshaushalt sedimentierten sie zu kalten Identifikationsmarken des politischen Systems und seiner Herrscherclique. Die von Bauakademie und Bauministerium propagierten Codierungsversuche der Neubauwohnung als soziales, fortschrittliches und vollinstalliertes Obdach konnten nicht verhindern, daß sich „Platte" als negativ besetztes Synonym für den Wohnungsbau der DDR schlechthin einbürgern sollte.

Auf der ersten Leipziger Volksbaukonferenz im Januar 1990 stoppte das erzürnte Bürgervotum den Angriff der Platte auf die Innenstadt. Der Architekt Meinhard von Gerkan zeichnete in der bauwelt wenig später das Stimmungsbild einer „etablierten Position", möglichst alle DDR-Bauten abzureißen und damit die Vergangenheit von gestern auszulöschen, um sodann die Vergangenheit von vorgestern zu rekonstruieren. Die dazu oppositionelle Position hingegen nähme das „Häßliche und Verwerfliche" als existent hin, um es zu integrieren. Die zerstörerische Logik einer zu Ostzeiten verselbständigten Stadtvernichtung bestimmt heute immer noch die städtebauliche Diskussion. Man denke an die Abrißdebatte im Rahmen des Förderprogramms „Stadtumbau Ost" oder an den neuerlich von der Bündnisgrünen Antje Vollmer und dem Stadthistoriker Dieter Hoffmann-Axthelm losgetretenen antimodernen Fundamentalismus gegen eine Nachkriegsmoderne hüben wie drüben. Abriß lautet also die Zauberformel.

An dieser Stelle lohnt ein Szenenwechsel mit Blick auf den Stand des künstlerischen Umgangs mit der Platte, um ihre verborgenen Potentiale unabhängig von Politik und Wohnungswirtschaft zu erahnen. Zwei Richtungen werden hier eingeschlagen. Da ist zum einen der Weg zur Hülle an sich, zur Verpackung ohne Inhalt. Die Platte erlebt derzeit ihren zweiten, einen Spaß-Frühling, geht eine Verbindung aus der vorkämpferischen Vorstellung eines künstlerischen Fortschritts mit den Antriebskräften des Marktes ein. Der Handschlag zwischen Platte und Pop trifft in der kreativen Szene derzeit auf ein Klima, in dem Platte als unetabliert und trashig gilt. Die Werbeindustrie begriff das schnell, wie die Vielzahl an entsprechenden Motiven in der Werbung zeigt. Kaum drehte Coca Cola am Platz der Vereinten Nationen einen Werbespot mit Blick über die sozialistische Berliner Architekturskyline, hypte sodann Alisa Roth in der New York Times das „urban pioneering" der neuen Plattenbaubewohnergeneration als „ugly is way cool".

Platte
Foto: Steffen Schuhmann

Im Sommer 2002 kam mit „Dostoprimetschatjelnosti" endlich ein internationales Kunsthappening in die Großsiedlung Hellersdorf. Ein verwaister Elfgeschosser bot rund 50 Künstlern aller Disziplinen eine große Spielwiese, um Erfahrungen und Ansätze für das Leben und die Kultur, den Traum vom künstlerischen Schaffen und Wohnen zu erproben. Das Wort von der trendy Wohnform Platte machte die Runde. Was Christian Lagé, Mitinitiator des Projektes, der Neuen Zürcher Zeitung flugs als „Schwachsinn" und hippes Innenstadtphänomen für obere Stockwerke mit spektakulärer Aussicht über die Stadtlandschaft anvertraute. Eingereiht zwischen Trabant, Club Cola und Ampelmännchen zählt die Aneignung der Platte zu den Gimmicks, zu den leichten Identifikationsobjekten.

Der andere Ansatz schreitet auf dem tückischen Weg der inhaltlichen Auseinandersetzung zu der Frage, wie mit der Platte als einem „schweren" Symbol der DDR umzugehen sei. Der Wille, hier mehr als nur an der Oberfläche zu kratzen, gründet auf einer weit verbreiteten Suche nach dem Land DDR, das viele aus der jüngeren Generation bloß noch als erfundenes Gebiet begreifen.
Es ist ein zunächst unerklärlicher Mythos, der frei von politischen Ideologien und gesellschaftlichen Denkschablonen im Blickwinkel einer zeitgemäßen Nutzbarmachung betrachtet wird.

Das Kartenspiel Berliner Betonerzeugnisse setzt sich mit der aus dem Kontext herausgelösten Gestaltungsästhetik der Platte auseinander. Annett Zinsmeisters digitales Memory Memodul eignet sich zur Kontemplation der Frage nach der Gewichtung von Form und Funktion. Es bietet 1001 modulare Möglichkeiten, die WBS 70 in phantasievolle Dekonstruktionen zu überführen. Katja Kruckows Platten-Mobile Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen? verscheucht unseren Argwohn. Eine sich vor dem Plattenbau erstreckende Freifläche entfaltet sich für deren Bewohner zu einer uns erfreuenden Vielfalt von Nichts, Platz, Müllkippe, Wiese, Biotop, Unkraut, Gelände, Brachland, Grün oder Gebüsch. Die architektonischen Modellbögen der edition faltplatte provozieren. Endlich zu Papphäusern zusammengeklebt, kann sich der Bastler seine Heimat en miniature nach eigenen Kriterien erschaffen und sie sogleich auch wieder schleifen.

Solcherart unkonventionelle Spielereien, die auf Verfremdungsstrategien setzen und über tradierte Darstellungstechniken hinausgehen, sind nicht nur symptomatisch für den Umgang mit der Platte, sondern weisen auf einen neueren Umgang mit Facetten der DDR-Kultur insgesamt hin. Die flexible Anordnung ihrer Überreste und gespeicherten Erinnerungen entfaltet sich im neuen Kontext zu ausgefallenen und irritierenden Neuordnungen. Im Spielerischen liegt manch verblüffende Einsicht verborgen. Aus der Vielzahl möglicher Bedeutungsebenen strömt ein Odeur hervor, das unsere Rezeption, die Neubaugebiete gewöhnlich als Gegenwelten der Zivilisation wahrzunehmen, irritiert. Neben der immensen gesellschaftlichen Bedeutung der Platte ist es ihre kulturelle Leistungsdichte, die es den Gralshütern der deutschen Leitkultur schwer machen wird, gegen ihren unaufhaltsamen Aufstieg in das Pantheon des ­ ob sie es wollen oder nicht: nun gesamtdeutschen ­ nationalen Kulturerbes anzukämpfen. Bis dahin jedoch taugt sie als Steinbruch für ihre Rehabilitierung allemal.

Andi Seidel

 
 
 
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