Ausgabe 03 - 2003

berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Film ist ein Ersatz für das Leben

Filmverrückt in New York: der Dokumentarfilm Cinemania

Sie kennen alle Kinos, alle Programme, alle Filme und richten ihr Leben danach aus. Kino ist das Leben, das sie sich ausgesucht haben. Die Rede ist von einigen Filmverrückten in New York, die ungehemmt ihrer Leidenschaft nachgehen. Film sei besser als Sex, behauptet einer. Quatsch, mag mancher denken. Aber der komische Typ hat wenigstens eine Passion. Zudem ist er mit seiner Meinung nicht allein, wie man in Cinemania von Angela Christlieb und Stephen Kijak erfahren kann. Der Dokumentarfilm porträtiert fünf Kinofanatiker unterschiedlichen Alters in New York, die schon längst das „normale" Leben gegen ein möglicherweise schöneres auf der Leinwand eingetauscht haben.

Kino ist mein Leben: Der Satz trifft natürlich auch auf alle Angestellten der Filmindustrie zu, nur verdienen die porträtierten Maniacs damit kein Geld, jobben, um ihre Sucht zu finanzieren. Die eigene Leidenschaft nicht unbedingt zum Beruf machen zu wollen, ist schon per se sympathisch, auch den Filmemachern. Daran läßt der Film keinen Zweifel.

„Filmfreaks sind unsozial", sagt einer. Zumindest sind sie Eigenbrötler mit skurrilen Macken. Jack hat für den Notfall immer warme Unterwäsche dabei. Eric hatte seit Jahren keinen Sex, dafür in acht Monaten 1000 Filme gesehen. Harvey wohnt noch bei Mutti und kennt die Laufzeiten sämtlicher Filme auswendig. William mag keine langweiligen Kunstfilme und könnte eigentlich Kritiker sein. Und zuletzt Roberta, die Programmhefte in ihrer winzigen Wohnung hortet. Die Filmemacher lassen sie unkommentiert sprechen. Schritt für Schritt taucht man in ihre eigene Welt ein und freundet sich mit den Freaks an.

Daß ihr Treiben seltsam erscheinen muß, ist den meisten durchaus klar. Manche haben noch soziale Kontakte zur „realen" Welt, sie verkehren auch privat untereinander. Nur das mit den Frauen gestaltet sich schwierig. Sie hetzen von Kino zu Kino, einem straffen Plan folgend, hin und wieder treffen sie sich zufällig in einem Kinosaal. Wahrscheinlich haben sie schon mehr Filme gesehen als manche Experten.

Diese fünf mögen einsam sein, aber wenn sie von ihrer Passion erzählen, sind sie offenbar glücklich. Sie leben, ganz amerikanisch, ihren Traum, dem Sozialamt sei Dank. So sind sie ständig auf der Jagd nach dem flüchtigen, wenn auch reproduzierbaren Augenblick auf Zelluloid. „Film ist ein Ersatz für das Leben", ist ein weiteres Bekenntnis. Es ist das andere, schönere Leben auf der Leinwand, eines aus zweiter Hand, das man nicht selber leben muß und das einem nichts anhaben kann. So betrachtet, könnte auch der nur normal Filmverrrückte bisweilen ausrufen: Nehmt mich mit, ich bin einer von Euch! ­ um dann das nächste Kino anzusteuern.

Ingrid Beerbaum

> „Cinemania" von Angela Christlieb und Stephen Kijak ist ab dem 10. April im fsk und im Central zu sehen.

 
 
 
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