Ausgabe 03 - 2003

berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Der große und artige Popliteratur-Schwindel

Moritz Baßler freut sich über die „kontextgerechte Verwendung von Markennamen"

„Zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg ist die deutsche Literatur heute besser als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft" – und die erreichte immerhin den Titel des Vize-Weltmeisters. Mit dieser spektakulären Behauptung beginnt der Rostocker Literaturwissenschaftler Moritz Baßler sein Buch Der neue deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, in dem er eine literaturwissenschaftliche Deutung des Phänomens der Popliteratur versucht. Am 12. und 13. April werden im Roten Salon der Volksbühne Baßler und einige andere Akademiker Ähnliches versuchen – Zeit für eine Retrospektive des großen und artigen Popliteratur-Schwindels.

Die große Mainstream-Popliteratur

Was zwischen 1995 und 2000 von der Literaturkritik als Popliteratur bezeichnet wurde, waren zumeist Erzähltexte junger aufstrebender Medienarbeiter, die sich erstaunlich gut verkauften (die Texte wie auch ihre AutorInnen) und deren Figuren einem illusionslosen und konsumfreudigen Mittelschichtsmilieu entstammten. Etwas deutlicher schrieb Jürgen Roth im Jahre 2000: „Der Popliterat haut ihn so raus und hin, den Roman; obschon er keiner ist, selten eine Novelle, meist ein autobiographisch gefärbtes Konvolut unsortierter Einfälle". Die Bücher von Christian Kracht (Faserland, 1995), Alexa Hennig von Lange (Relax, 1997), Benjamin von Stuckrad-Barre (Soloalbum, 1998), Benjamin Lebert (Crazy, 1999) wie auch etliche andere schienen die Hoffnungen jener Lektoren und Kritiker zu erfüllen, die in der ersten Hälfte der neunziger Jahre eine Wende auch in der deutschsprachigen Literatur gefordert hatten. Gegen die „selbstgefällige Sturheit der Altavantgardisten und Literaturnomenklaturisten" sollten nach Auffassung Maxim Billers und anderer endlich wieder „anständige Romane" geschrieben werden, die man „in einem Ruck durchliest".

Nachdem dieser Ruck ­ bestehend aus Stories über masturbierende Jungjournalisten, pubertierende Internatsschüler und pillenschluckende Pärchen ­ dann einzelne Segmente des deutschen Literaturmarktes zu erschüttern versucht hatte, war das auch wieder nicht recht. Biller wies die jungen Milden und ihre „Schlappschwanzliteratur" Anfang des Jahres 2000 auf einer Tagung in Tutzing zurecht, auf der Kollege Matthias Altenburg die neue Literatur als „Gervais-Frischkäse ­ die leichte Alternative" bezeichnete.

Übersehen wurde von den meisten Diskutierenden, daß Popliteratur ursprünglich keineswegs eine leichte Alternative, sondern vielmehr die Leichtigkeit des Alternativen zu transportieren versuchte. Ab Mitte der sechziger Jahre bemühten sich Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann, Peter Handke, Hubert Fichte, Elfriede Jelinek und Jörg Fauser um die Integration von Techniken und Themen der Pop-Welt in die deutschsprachige Literatur ­ vor allem ging es ihnen dabei um Sprachexperimente und einen Blick auf die Ränder. Auf diese Tradition ließen sich die eher avancierten Pop-Texte der Suhrkamp-Autoren Thomas Meinecke, Rainald Goetz und Andreas Neumeister beziehen, wie auch die thematisch und sprachlich eher an die Ränder ausweichenden Texte der Kanaksta um Feridun Zaimoglu sowie der Social-Beat-Autoren.

Eine artige Popliteratur-Theorie

Im Jahre 2001, also nachdem diese Mainstream-Popliteratur ihren Höhepunkt überwunden hatte, erschienen die ersten Bücher, die sich gerade in Abgrenzung von der Kurzsichtigkeit mancher Literaturkritik bemühten, diese vielfältigen Entwicklungslinien und Kontexte aufzuweisen. Mit dem vielgelobten Buch von Baßler wird nun ein anderer Akzent gesetzt: Baßler definiert Popliteratur als einen „neuen Archivismus", der davon ausgeht, daß „die Kultur der Gegenwart und somit unsere Sprache immer schon medial und diskursiv vorgeformt ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Literatur der zweiten Worte, die im Material der Sprache des immer schon Gesagten arbeitet." Damit ist noch nichts Neues gesagt, denn eine ganz ähnliche Definition findet sich auch bereits in Jörgen Schäfers Arbeit Pop-Literatur von 1998 über Rolf Dieter Brinkmann.

Neu ist jedoch, auf welche Weise Baßler nun seine Matrix zur Beurteilung und Beschreibung der verschiedenen popliterarischen Werke entwickelt: Zentral sind für ihn die „vielfältigen Verfahren der Katalogisierung und Listenbildung", und als „Chiffre des neuen Prinzips" gilt ihm „der archivierte Markenname". Dies führt zu erstaunlichen literarischen Wertungen und Sortierungen, die vermutlich provokativ sein sollen: Zunächst werden die neuen Archivisten gegen „E-Autoren" wie Peter Handke, Herta Müller und Wolfgang Hilbig ausgespielt, denn diese „Literatur ohne Markennamen" sei „selbstquälerische Reflexionsprosa" und nur mehr (in Hilbigs Fall) der „dankbare Hüter des Auschwitz-Komplexes" – damit offenbart sich der „neue Archivismus" als Fortsetzung der 1990er-Literaturdebatte – und gar der Walser-Bubis-Debatte mit literaturwissenschaftlichen Mitteln. Neben dem Maß ihrer Kataloghaftigkeit wird die Qualität der Popliteratur bestimmt über den Grad ihrer „ZweitenWorteHaftigkeit". So werden Goldt, Stuckrad-Barre und Meinecke einerseits über Goetz, Neumeister und Kapielski andererseits gestellt, weil letztere noch immer der „traditionellen literarischen Überzeugung" anhingen, „ihren eigenen Diskurs zu schreiben".

Diese Fixierung auf die Nennung von Markennamen und die Diffamierung von literarischer Reflexion und Formexperimenten befördern einen bestürzend positivistischen Literaturbegriff. Die Reduktion popliterarischer Texte auf ihre Tauglichkeit als Archivierungsstrategie verstellt den Blick darauf, daß Goldt und Kapielski mit ihren satirischen Texten die alltäglichen und alltagssprachlichen Abläufe satirisch zu unterwandern versuchen, Meineckes literarische Adaptionen subversiver Gesellschaftstheorien keineswegs bloß auf „Sound" und „spezifische Komik" reduzierbar sind, wohingegen Goetz', Neumeisters und Stuckrad-Barres jüngere literarische Veröffentlichungen letztlich kaum mehr sein wollen als eine „kontextgerechte Verwendung von Markennamen" in Baßlers Sinne. Daß ein Text zumindest Trouble in die normalisierten Diskurse und ihre Begriffe zu bringen versuchen könnte, ist im Projekt des neuen Archivismus nicht vorgesehen. Folglich drehen wir uns – historisch, politisch, ökonomisch, literaturtheoretisch – nur mehr im Kreis: „Otis Redding ist tot, der Sozialismus sowieso. Wo der Markt regiert, regieren die Marken, und der Markt regiert überall." Mehr wäre vom literaturwissenschaftlichen Versuch, die Marke Popliteratur light zu archivieren, auch nicht zu erwarten gewesen. Dieser bleibt artig wie Gervais-Frischkäse und weltmeisterlich wie Du darfst-Margarine. Oder so.

Thomas Ernst

> Literatur zum Thema:

_Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. Beck Verlag, München 2002. 12,90 Euro

_Thomas Ernst: Popliteratur. Rotbuch Verlag, Hamburg 2001. 8,60 Euro.

_Thomas Ernst, Literaturwissenschaftler in Mülheim/Ruhr und Bruxelles, hält am 12. April um 14.30 Uhr im Roten Salon einen Vortrag über die „neue deutschsprachige Popliteratur zwischen (Schein-)Affirmation und (Schein-)Subversion".

 
 
 
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