Ausgabe 03 - 2003

berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Berlin 1903

Tilla Durieux

"Können Sie heute abend die Solome spielen?" Meine Knie versagten mir wieder einmal, und ich setzte mich auf einen Haufen Vorhänge, die gerade neben mir lagen, und brüllte begeistert „Ja". Was nun folgte, war wie ein toller Traum. Hin zum „Neuen Theater", rasche Text- und Tanzprobe. Dieser Tanz, der wochenlang mit der Eysoldt durchdacht und geprobt worden war, sollte nun in fünfzehn Minuten gekonnt sein. Der Magen leer, schwindelig im Kopf, zu Fuß nach Hause, um das Geld für die Elektrische zu sparen, Kostüm zusammensuchen – denn auch hier mußte man damals noch die Kostüme selbst stellen – , erschöpft die Rolle wiederholt, zurück ins Theater mit dem schweren Paket und endlich, halbtot, in der Garderobe.

Der Maler Ernst Stern, der damals alle Dekorationen schuf, kam zu mir herein, brachte mir noch ein paar Tücher und Schleier, aber ich wußte nichts mehr von mir und meiner Umgebung und setzte mich schließlich wie im Traum hinter die Bühne, hörte aus weiter, weiter Ferne Berthold Held dem Publikum die Umbesetzung mitteilen, die von einem unwilligen Gemurmel quittiert wurde, und dann war es Nacht für mich geworden.

Diese Vorstellung habe ich tatsächlich mit vollständigem Aussetzen meines Bewußtseins gespielt, und ich erwachte erst, als der Vorhang fiel und der jubelnde Applaus mich wieder und immer wieder rief. Reinhardt kam auf mich zu und sagte: „Sie sind ja ein großes Talent, wir werden Ihren Vertrag revidieren müssen." Alles umringte mich, und ich taumelte vor Freude. Wie gerne hätte ich jetzt etwas Tüchtiges gegessen und ein Glas Bier getrunken, wie gerne mit jemandem über den Abend geplaudert. So aber tappte ich schüchterner, einsamer Tropf wieder nach Hause und aß als Belohnung ein Stückchen Wurst, das ich mir nachmittags gekauft hatte. Trotzdem hätte ich an diesem Abend nicht mit einem König getauscht.

Von da ab spielte ich abwechselnd mit der Eysoldt und bei der fünfzigsten Vorstellung auch vor der Presse, und von diesem Tage an war ich in Berlin bekannt. Die „Salome" wurde nun in dieser und der nächsten Saison unendlich oft gegeben.

Geht ein Stück täglich über die Bühne, werden die Schauspieler übermütig, hauptsächlich die Inhaber der kleinen Rollen. Die Hauptdarsteller lassen sich seltener zu Scherzen verleiten, denn das heißt, seinen Ruf aufs Spiel setzen, und heimliches Gelächter auf der Bühne macht das Publikum böse. Die kleineren Schauspieler sind nicht zu halten, was menschlich begreiflich ist, denn wer erträgt schon, an zweihundert aufeinanderfolgenden Abenden einen Akt lang stumm dazustehen und nur etwa zu sagen: „Königin, Ihr seid heute schön!"

Um das Ärgste zu verhindern, stand Reinhardt damals noch selbst als Aufpasser in der Kulisse – aber er hatte nicht mit den „drei Juden am Brunnen" gerechnet. Unter Anführung von Viktor Arnold heckten sie jeden Abend einen neuen Streich aus, da half kein Zürnen und kein Bitten. Eines Abends, es war in der zweiten Hälfte des Monats, verlangten die Soldaten, die den jungen toten Syrer forttragen sollten, Vorschuß. Sie erklärten, wenn man ihn nicht gewährte, würden sie den Toten auf der Bühne liegen lassen. Diese Forderung wurde während der Vorstellung erhoben, und die „drei Juden am Brunnen" übernahmen mit großem Eifer und viel Liebe die Vermittlung zwischen Reinhardt, der wutbebend hinter der Bühne stand, und den Soldaten, die trotzig vorne an der Rampe weilten. Während wir vorne weiterspielten, ging hinten der Kampf auf Tod und Leben. Die Juden, die Gebete zu murmeln hatten, flüsterten statt dessen: „O Reinhardt, gib uns Vorschuß, sonst bleibt der junge Syrer auf der Bühne liegen." Reinhardt gab noch immer nicht nach, aber die Juden sangen: „O Reinhardt, der junge Syrer fängt schon an zu stinken." Da gab Max endlich nach, und wie der Blitz faßten die Soldaten den Toten und schleiften ihn in die Kulisse; für den Syrer gerade noch im letzten Augenblick, denn im vollen Rampenlicht liegend mußte er die Verhandlung mit anhören und stand vor einem Lachkrampf.

Text: Tilla Durieux, herausgesucht von Falko Hennig

 
 
 
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