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Die Zeit
Texte aus dem Knast (I)
Der folgende Text entstand in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel. Seit einem Jahr trifft sich dort alle zwei Wochen eine Literaturgruppe und Schreibwerkstatt, in der die Gefangenen eigene Texte lesen und diskutieren. scheinschlag wird in Kooperation mit der Literaturgruppe in den nächsten Ausgaben in loser Folge Ergebnisse dieser Arbeit veröffentlichen.
Die Zeit vergeht so schnell! Das hab ich früher immer gedacht. Heute stimmt das nicht mehr. Ich glaube, die Zeit steht ganz still und ich bewege mich in ihr, manchmal langsam und manchmal mit rasender Geschwindigkeit. Seit ich hier bin, empfinde ich das deutlich. Ich sitze in der Zelle, und die Zeit steht still. Ich kann sie nicht sehen, nicht riechen und nicht hören, aber sie umgibt mich von allen Seiten. Ihre Stille und Unbeweglichkeit ist schrecklich. Ich springe auf, gehe drei Schritte von der Tür zum Gitterfenster und versuche, ihr zu entrinnen. Ich tue etwas, die Dinge treiben mich voran. Ich vergesse die Zeit. Und dann, ganz plötzlich, ist sie wieder um mich. Vielleicht stehe ich vor dem Fenster und schaue hinaus zu den Vögeln am Himmel, und da ist sie wieder, körperlos und still und hält uns fest, den Himmel, die Vögel und mich. Ich werde mich an sie gewöhnen müssen, an ihre Gleichgültigkeit und Allgegenwart. Sie dehnt sich aus bis in die Unendlichkeit wie ein riesiges Spinnennetz. Ein graues, unerbittliches Netz, in dem jede Sekunde meines Lebens festgehalten liegt. Vielleicht erscheint sie mir deshalb so schrecklich, weil sie alles aufbewahrt und nichts wirklich enden läßt.
Wenn die Zeit aber nur in meinem Kopf existiert und ich sterbe, wird sie mit meinem Tod enden. Dieser Gedanke läßt mich wieder hoffen. Ich habe es vielleicht in meiner Hand, die Zeit zu ermorden. Das Netz wird reißen und mit seinem traurigen Inhalt in das Vergessen stürzen. Man müßte mir dankbar dafür sein, aber niemand wird nach meinem Tod wissen, daß ich die Zeit ermordet habe.
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