Ausgabe 03 - 2003

berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Aufbruchstimmung

Mitte im Wedding

Das Grundstück liegt im Wedding, aber aus Imagegründen bevorzugt man den Namen des neuen Großbezirks: „Lebenshaus Mitte" steht über dem Eingang der ehemaligen „Industriewerkstätten des Nordens" an der Gerichtstraße 23. Sechs graue Wohn- und Gewerbehöfe, gebaut in der späten Gründerzeit und im Krieg schwer beschädigt, seither notdürftig in Stand gehalten und phantasievoll ausgebaut. An den Aufgängen ein Kunterbunt von Namensschildern, eine wilde Mischung aller denkbaren Nutzungen: Künstler, Handwerker, Büroarbeiter. Hinter dem Gebäude, direkt an der Panke, ein improvisiertes Sommercafé. Ein Arrangement, wie es im eigentlichen Mitte bereits als glorreiche Vergangenheit besungen wird.

Seit anderthalb Jahren sind die Höfe in Besitz des Immobilienkaufmanns Hubert Jenner und seiner Stiftung Lebensfarben, die die sog. „Lebenshäuser" betreibt ­ ruhige, pastellige Einrichtungen zur Betreuung von Kranken, Alten, Bedürftigen, auch kulturelle Aktivitäten gehören dazu. Auch die Gerichtstraße 23 soll ein Lebenshaus werden. Die zwei Wohnhöfe werden saniert, die Gewerbehöfe erhalten im Sommer eine Zentralheizung. Einige Räume will die Stiftung selbst für ihre „Sammlung historischer Tasteninstrumente" und eine „Info-Box" nutzen, in anderen sollen Cafés, offene Ateliers und soziale Projekte einziehen. Um Publikum anzulocken, ist entlang der S-Bahn eine neue Zufahrt geplant; ein weiterer Eingang entsteht an der Panke, wo als Teil des „Panke-Grünzugs" ein Uferweg in Vorbereitung ist.

Die Projektleitung von der „Bunte Häuser GmbH", die das Haus verwaltet, verbreitet Aufbruchstimmung: Ein „lebendiges Haus" soll es werden, „alles, was spannend ist", seinen Platz finden. Für dieses Ziel nimmt man auch Kompromisse in Kauf. Bei der Sanierung kann improvisiert werden, je nachdem, was die Mieter brauchen und selbst beitragen können. Auch die bisherigen Nutzer sind angeblich willkommen. Sie müssen nur einen „Bezug zum Projekt" haben ­ und sich die steigenden Mieten leisten können. Denn die bisherigen Einnahmen, heißt es, decken nicht einmal die Betriebskosten, von Sanierung und Ausbau ganz zu schweigen.

Die etablierteren Nutzer haben weder mit den Mieten noch mit dem Konzept ein Problem. Aber man trifft auch andere: „Am Anfang, als die ihre Ideen vorgestellt haben, waren alle ganz begeistert. Aber jetzt hauen die meisten ab, sobald ihr Vertrag ausläuft", erzählt ein Künstler, der in einer der Fabriketagen sein Atelier hat. Rund die Hälfte der Einheiten stünden inzwischen leer. „Aufbruchstimmung? Ja, so könnte man es nennen." Mitte letzten Jahres beschwerte sich die „Interessengemeinschaft der Gewerbemieter in der Gerichtstraße 23" in einem offenen Brief, daß bei neuen Verträgen rund die doppelte Miete verlangt würde. Die Unterzeichnenden befürchten eine „systematische Verdrängung der verdienten Altmieter". Ein Gewerbetreibender drückt es so aus: „Die wollen alle rausekeln, die ihnen nicht ins Konzept passen."

Dabei hat nicht eine wohlmeinende Stiftung, sondern die tatkräftige Mietergemeinschaft die Gebäude vor dem Verfall gerettet und mit Leben erfüllt. Sie haben die Dächer geflickt, neue Fenster oder sogar Etagenheizungen eingebaut. Je nach Bedarf und finanziellen Möglichkeiten haben sie sich in der offe-
nen, flexibel nutzbaren Stahlbetonstruktur Werkstätten, Ateliers, Büros oder Lagerräume hergerichtet. Über unbürokratische Untervermietungen blieb die Zusammensetzung der Mietergemeinschaft ständig im Fluß und war dabei, wenn man den Erzählungen glauben darf, ausgesprochen harmonisch: „Es gab hier einen großartigen Zusammenhalt. Man kannte sich und half sich aus."

Aus dem Nutzungskonzept der Bunte Häuser GmbH, Punkt 5, „Die Idee": „Durch die unterschiedliche Nutzung wird das Haus selbst ein Treffpunkt, in dem neue Kontakte, Verbindungen und Möglichkeiten entstehen. Diese Treffpunkte werden gezielt durch die Gestaltung der Außenanlagen als auch durch die Nutzung des Erdgeschosses als Ausstellungs- und Gastronomiebereich entwickelt. Das Haus wird ein Lebenshaus."

Was, möchte man fragen, war es denn vorher?

Otto Witte

 
 
 
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