Ausgabe 03 - 2003

berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Kreative Nomaden

Zwischennutzer im ND-Gebäude

Eine alte Maklerweisheit besagt, daß für die Vermietung von Büroflächen drei Dinge ausschlaggebend sind: die Lage, die Lage und die Lage. Das ND-Gebäude lehrt uns, was von solchen Weisheiten zu halten ist. Der riesige, etwas abgewetzte Plattenbau mit DDR-Ausstattungsstandard steht in Friedrichshain am Franz-Mehring-Platz und ist beileibe keine Top-Adresse. Und doch ist der Bürobau als einer der ganz wenigen Berlins voll vermietet.

Der Bau wurde 1969 als Hauptsitz des Neuen Deutschlands (ND) auf dem Gelände des kriegszerstörten Wriezener Bahnhofs errichtet. Nach der Wende meldete die Bahn Besitzansprüche an; die Verhandlungen kamen zu dem unbefriedigenden Ergebnis, daß ihr zwar das Grundstück, dem ND aber das Gebäude gehört. Ein abstruser Vergleich schlug den Haupttrakt dem ND zu, die Seitenflügel und die angrenzende Drukkerei gingen an die Bahn.

Die Zeitung ist mittlerweile nach Alt-Stralau gezogen. Eigentümer des Gebäudes wurde eine Grundstücksgesellschaft, die inzwischen auch die Seitenflügel wieder zurückgekauft haben soll. Über die dahinter stehenden Personen und ihre Absichten ist wenig in Erfahrung zu bringen; ob demnächst eine Sanierung oder ein Verkauf ansteht, ob das ND wieder zurückzieht oder die jetzigen Mieter bleiben dürfen, kann niemand sagen. „Kein Abriß, soviel steht fest", heißt es im Sekretariat, und es klingt so, als habe man sogar das erwogen.

Bisher haben die unklaren Besitzverhältnisse und die seltsam tolerante Hausverwaltung dem Haus Glück gebracht. Die verschiedenen Nutzergruppen bilden eine bizarre Mischung; in den endlosen Gängen findet man hochkorrekte Schreibtischarbeiter ebenso wie interessant-wirken-wollende Künstler, linke Polit-Asketen und kreative Start-Up-Unternehmer. Man spricht über Kunst und Softwareprobleme, über Party, Politik und den Feierabend.

Ein Drittel der Flächen wird von Mietern genutzt, die sich schon Mitte der Neunziger dort niederließen, so die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die DKP, ein Teil des Eulenspiegel-Verlages oder auch die „Initiative zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe der DDR". Es gibt auch Firmen, die es einfach auf billigen Büroraum abgesehen haben, darunter eine Autovermietung, Unternehmensberatungen, Kosmetikstudios und sogar ein Sicherheitsdienst.

Im 2. Stock konzentriert sich eine Gruppe von Künstlern, Graphikern, Architekten, Musikproduzenten, Fotografen, Kaufleuten u.a., die erst 2001 zuzog. Die Gruppe ging aus dem Haus des Lehrers (HdL) hervor. Nachdem sie das Hochhaus am Alexanderplatz soweit aufgewertet hatten, daß es – nach Jahren gemütlichen Vor-sich-hin-Werkelns – zu hip geworden war, um von der Immobilienwirtschaft länger übersehen zu werden, mußten sie gehen; der Bau wurde zur Entkernung freigegeben. Einige der Vertriebenen besiedelten das gegenüberliegende Haus des Reisens und das boot lab in der Ziegelstraße. Eine Gruppe Pioniere suchte weiter im Osten nach Freiräumen; nicht als Besetzer, sondern als Zwischennutzer, die den Verwaltern leerstehender Gebäude Lösungen zum beiderseitigen Vorteil anboten. Im ND-Gebäude erwirkten sie günstige Konditionen, zum Beispiel Mietminderung gegen Eigenbeteiligung bei Reparaturen. Die Verwalter konnten auf einen Schlag große Flächen vermieten, ohne sich auf eine Dauerlösung einlassen zu müssen.

Obwohl die HdL-Leute völlig verschiedenen Tätigkeiten nachgehen, bemühen sie sich um Zusammenarbeit. Nicht nur, um eine bessere Verhandlungsbasis gegenüber Eigentümern und Hausverwaltung zu erzielen. Es hat auch den praktischen Vorteil, daß flexibel und unbürokratisch reagiert werden kann, wenn ein Büro sich vergrößern, verkleinern oder in einen anderen Trakt umziehen will, wenn kurzfristige Finanznöte auftreten oder wenn Lücken geschlossen werden müssen, weil jemand pleite macht oder sich im Gegenteil so etabliert, daß er einen repräsentativeren Standort wählt.

Außerdem hat die Gruppe eine möglichst breite und intensive Vernetzung zum Ziel, den Austausch von Kompetenzen und technischer Ausstattung. „Eine Multiplikation der Fähigkeiten" nennt das Andreas Schneider, einer der Wortführer der Gruppe. Um die „Gruppendynamik", die er bemüht, ist es im ND-Gebäude allerdings nicht mehr so gut bestellt wie seinerzeit im HdL. Es fehlt die offene, weitläufige Gebäudestruktur; die langen Flure und kleinen Büros laden kaum zu einem intensiven Austausch ein. Die regelmäßigen Gemeinschaftsabende, in denen Projekte vorgestellt oder auch nur gefeiert wurde, sind am neuen Standort bald wieder eingeschlafen.

Andererseits freut sich Schneider, daß hier nicht mehr ­ wie in dem Gebäude am Alex üblich ­ regelmäßig Gäste einfallen, die nur der rauschenden Parties und albernen Vernissagen wegen kommen, die Räume verwüsten und die Arbeitsatmosphäre stören. Hier werden kleinere Initiativen bevorzugt, etwa der „Chor Neues Deutschland", wo ironisch stolze Kampflieder gesungen werden. Die gemeinschaftliche Teeküche ist gut besucht, aus manchen Büros dringt Musik, und auf einigen Stockwerken scheinen sich alle seit Jahren zu kennen. Manchmal entsteht der Eindruck, man hätte es mit einer großen WG zu tun. Es ist der Versuch, trotz der extremen Arbeitszeiten der aufreibenden Kreativ-Berufe nicht zu vereinsamen und die langen Abende zumindest mit Gleichgesinnten zu verbringen. „Wenn ich eh die ganze Woche auf Arbeit bin, will ich wenigstens mit netten Leuten zu tun haben", erzählt eine Graphikerin.

Daß ihre Mietverträge Ende des Jahres auslaufen, scheint die Leute vom HdL nicht zu stören. Einige würden eine bevorstehende Sanierung begrüßen. Sie hoffen, daß sie finanziell noch tragbar wird. Anderen ist der Ort ohnehin nicht wichtig; sie haben sich nur eingemietet, um in Ruhe ihre Doktorarbeiten anzufertigen. Wieder andere werden sich das nächste freie Gebäude suchen, das es zu entdecken und anzueignen gilt. Vielleicht kommt man dann wieder mit den anderen „Lehrern" zusammen, deren Domizile in der Ziegelstraße und am Alex ebenfalls demnächst geräumt werden müssen.

Die Idee, an immer anderen Orten immer neue Zwischennutzungen zu organisieren, ist nicht aus der Not geboren. Das Nomadentum ist Programm. Mit den Subkultur-Zentren, die sich an ihre in den Siebzigern und Neunzigern eroberten, immer perfekter hergerichteten Freiräumen festkrallen, hat das nichts gemein. Ungerührt bricht man die Zelte ab und freut sich, daß es nur Zelte sind und keine Burgen. „Da muß Bewegung drin bleiben", findet Schneider. „Wenn du jemandem ein Kissen unter den Arsch schiebst, geht alles kaputt." Ob er keine Angst hat, eines Tages keine Freiräume mehr vorzufinden? „Keine Sorge. Solange in Berlin noch so viel leersteht ..."

Wenn man beobachtet, mit welcher Geschwindigkeit die Berliner Immobilienwirtschaft nützliche Freiräume ihren ganz und gar überflüssigen, teuren und häßlichen Standards opfert, möchte man an diesem Optimismus zweifeln. Aber vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die neuen Glas- und Stahlpaläste wieder heruntergekommen sind: Die Lebensdauer eines normalen Bürogebäudes beträgt 20 Jahre. Vielleicht erleben wir in einigen Jahren, wenn debis und die Bahn längst in angesagteren Stadtteilen und moderneren Büroklötzen hausen, den Einzug einer ähnlich anarchischen Bürogemeinschaft am Potsdamer Platz. Die Lage ist schließlich unwichtig.

Katrin Scharnweber/Johannes Touché

 
 
 
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