Ausgabe 2 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Der Fall Jürgen Riedel

Der scheinschlag ist keine Literaturzeitschrift und druckt auch nur in Ausnahmefällen literarische Texte. Dennoch erhalten wir regelmäßig Arbeitsproben unbekannter Autoren, Prosaskizzen über Spaziergänge durch Mitte und ähnliches. In Zeiten des Lesebühnen-Dilettantismus denken verständlicherweise viele: Das kann ich auch! Das Bedürfnis, sich als Autor zu produzieren, ist weit verbreitet und wird oft mit erheblichem persönlichen und finanziellen Aufwand verfolgt. Der Frankfurter R. G. Fischer Verlag bietet sogar Rezensionen zur Steigerung des literarischen Selbstwertgefühls an.

Der Berliner Autor Jürgen Riedel hat in jenem Fischer Verlag bereits an die zehn Bände veröffentlicht. Riedel, der sich selbst als Outlaw inszeniert, als „Gegner des Literaturbetriebs" und Kämpfer gegen „Meinungsdiktatur", ist gleichwohl emsig um Publizität bemüht. Vor etwa drei Jahren sandte er erstmals ein Buch an den scheinschlag. Das lag lange in der Redaktion herum, niemand mochte es besprechen; Häme über den polternd formulierenden Polit-Lyriker verbat sich für uns auch. Ich schickte Riedel damals sein Buch mit einem freundlichen Brief zurück. Der reagierte postwendend mit seinem „völlig anders gearteten" Gedichtband In Deutschland und anderswo III, in dem auch ein ­ damals aktuelles ­ Gedicht über BSE enthalten ist. Darin wettert Riedel „gegen hitlernde Fleischindustrie" und „goebbelnde Behörden" im „Nach-Auschwitz-Deutschland"; der US-Präsident „whoppert sich seine eigene Moral zusammen"; in der Abteilung „Scherzreimerei" ist die Rede von „des Arbeitsplatzverlustes Ängste", die in den Leuten „galoppieren". Das war vor zwei Jahren; das Buch liegt noch immer in der Redaktion.

Der selbsternannte „Aufrechtgeher" Riedel distanziert sich vom Literaturbetrieb, ist zu Stellungnahmen und Interviews nicht bereit. Im Nachwort zu besagtem Gedichtband betont er, daß „Presserenommiertheit keiner Leistungsrenommiertheit" entspreche, daß der „geistige Nährwert" der etablierten Feuilletons „einem Pferdeapfel" gleichkomme. Wer gegen ihn ist oder ihn schlicht ignoriert, der stößt sich halt am „linkspolitischen Inhalt" seiner Schriften.

Nichtsdestotrotz zitiert Riedel in seinen Büchern jede Pressestimme: „herausragende Sprache" attestieren ihm die Schöneweider Kieznachrichten, das Stadtmagazin Greifswald hält seine Gesellschaftskritik für „durchdacht", „sprachlich bedeutende Verse" sieht der Bitterfelder Spatz. Daß dem scheinschlag zu seiner Lyrik nichts einfällt, wird Jürgen Riedel nicht anfechten.

hb

> Jürgen Riedel: In Deutschland und anderswo III. Lyrik, Scherzreimerei. edition fischer im R. G. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 11,25 Euro

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  Ausgabe 2 - 2003