Ausgabe 2 - 2003 berliner stadtzeitung
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Singen, saufen, Rübe hinhalten

Scharfe Mensuren in Berlin 2003

Eine Randgruppe weilt unter uns, der man kaum begegnet; eine Minderheit, die auch der weltoffene Berliner mißgünstig beäugt. Die schlagenden Studentenverbindungen werden gemeinhin für gestrig, gar ausgestorben gehalten. Sie selbst wähnen sich und ihre Ideen aktueller denn je. Während man in ihnen, wenn nicht Nazis, so doch ein unheilvolles Netzwerk sieht, finden sich die Korporierten in einer eigenen Welt, die wiederum in Dachverbände zerfällt, die einander nicht hold sind.

Es gibt die Burschenschaften: Aufgenommen wird, wer Deutscher ist, gedient hat und einem sogenannten „politischen Anspruch" genügt. Älter sind die Landsmann- und Turnerschaften, bei denen jeder – Deutsche – konfessionell wie politisch nach seiner Façon glücklich sein darf. Außerdem gibt es die Corps – in Berlin ganze neun. Hier gilt das Toleranzprinzip; Konfession, Poli-tik, Hautfarbe und sexuelle Orientie-rung spielen keine Rolle, sofern man sich einbringe, erklärt Spyridon, ein Korfiot.

„Schwule, Schwarze und Linke werden zwar selten aktives Mitglied, sind aber willkommen, sie beleben die Konversation. Ein farbentragender Afro wird allerdings manchmal für ein rufförderndes Alibi gehalten. Ist Quatsch, es kommen halt wenige vorbei", berichtet, vom Biere schwer, Hannes, ein Ostfriese. Immatrikuliert müsse man sein und deutsch können. „Ist ja albern, mit jemandem ,Die Gedanken sind frei' zu singen, der nichts versteht. Es gibt auch Corps – in Frankfurt und Kiel, glaube ich – wo man eher homophil ist. Die machen gute Bälle und Cocktails."

Die Gastfreundschaft an diesem Abend ist generös. In einer Villa in Dahlem finden sich nicht nur männliche deutsche Gäste ein. Freibier fließt, die Corpsstudenten sind offenherzig. Das Ambiente ist, so man Vertäfelungen, Klingen, Kupferstiche und ähnliche Accessoires wohlwollend betrachtet, romantisch anachronistisch.

Corpsstudent, erläutert einer, sei man auf Lebenszeit. Sobald man sich nachher als Alter Herr etabliert habe, entrichte man dem Corps Beiträge, die den Aktiven die geringe Miete und andere Annehmlichkeiten ermöglichen. Studiert man etwas Gängiges, Jura, BWL, Medizin, so kann man später mit Hilfe der Adreßlisten der Altherrenverbände nützliche Beziehungen knüpfen. Corpsbrüder mit exotischeren Fachrichtungen können zumindest Freisuff und Logis in jeder deutschen Universitätsstadt erhalten.

Natürlich gibt es solche Vorzüge nicht ohne Gegenleistung. In den Aktivensemestern, in Berlin nicht unter vier, hat man Ämter zu bekleiden, bei allen Veranstaltungen, Corpsreisen und auch sonst präsent zu sein, zu singen und zu saufen und, was längst nicht jedem lieb ist, Loyalität zu zeigen, indem man „die Rübe hinhält". Ein Berliner Corpsstudent hat fünf Pflichtmensuren auszutragen, in Leipzig sind es sechs, in Bonn drei. Mitnichten handele es sich um Duelle, man fechte nicht gegen-, sondern miteinander. Überhaupt hat das sogenannte akademische Fechten nichts mit Sportfechten zu tun.

Zwei „Paukanten" stehen sich im Abstand einer Schlägerlänge gegenüber, die Hiebe gelten nur dem Kopf. Bis auf einen Arm hat der Körper reglos zu bleiben. Wessen Kopf zuckt, fällt durch. In Berlin besteht eine Partie aus 30 Gängen zu je sechs Hieben. Um mit einem Arm die Klinge zu führen und gleichzeitig seinen Kopf zu decken, braucht es außer Kondition auch eine leichte Überdehnung des Daumens und der Schulter. Hierfür wird allabendlich trainiert (gepaukt). Die Fechtmeister (Consenioren) handeln aus, wer wann und wo ficht.

Die „Bestimmtage" sind im Veranstaltungskalender mit oBT verzeichnet und finden viermal im Semester statt, zuletzt am 6. Februar auf dem Haus der Vandalia-Teutonia. Gegen neun füllt es sich mit Männern jeden Alters in bunten Jacken und Bändern, die Stimmung ist skurril. Fade ist nur, daß Frauen unerwünscht sind. Bier wird gezapft, die ersten nervösen Paukanten bandagiert. Augen und Ohren schützt eine Brille mit Eisengitter, um den Hals wird eine Ledermanschette gezurrt, so stramm, daß das blasse Gesicht errötet.

Man stellt sie gegenüber, mißt den Abstand, gleicht die Körperlänge an, wozu man dem Kleineren Bretter unterschiebt. Nachdem die Partie geschwollen angekündigt und den Paukanten das Herz in die Hose gerutscht ist, folgt das Kommando „Hoch bitte ­ fertig ­ los!", sodann die rasiermesserscharfen Klingen in einem Tempo um die Köpfe surren, bei dem man kaum kontrollieren könne, ob man den anderen treffe oder nicht, so Hannes.

Und blutig wird es diesen Vormittag. Anwesende Ärzte nähen die Schmisse wieder so zu, daß sie bald möglichst unsichtbar werden. Auf die Frage, warum man also derart fechte, wo es den meisten eher eine Last sei, vergleicht ein sehr alter Herr die Corps und ihr Mikrokosmos aus Spielregeln und Mutproben mit dem kindlichen Bedürfnis, Banden zu gründen. Sowas sei auch eine Verbindung, nur in akademischer Form.

Roland Kirberg

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