Ausgabe 2 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Impressum


Zur Homepage

Böhmische Dörfer

Ditte steht an der Weltzeituhr und wartet auf Menschenkind, der, Menschenskind!, pünktlich wieder einmal zu spät kommt. Warten auf einer höheren Ebene gleichsam zwischen wildfremden Menschen, von denen auch Dirk erwartet wird, was Menschenkind davon abgehalten hat, Ditte in seine Arme zu schließen, fast pünktlich. Als er nämlich nur zehn Minuten später kommt, erwartet ihn Li-Wai, die Schöne aus Laos, die ihn mit dem Schmelz eines Thai-Mädchens hauchend fragt: „Bist du Dilk?"

Menschenkind hätte fast „Ja!" gesagt, aber da hat ihn schon Ditte entdeckt, und da war er wieder der, der er immer war: Menschenkind.

Also unter den S-Bahn-Brücken durch, rüber zur Markthalle und dort hinein ins Bayerische Brauhaus, wo der Bär schon steppt.

Ein stämmiger Böhme mit Halbglatze und Pfannkuchengesicht, vor sich das Keyboard, singt ins Mikrofon: „Ich bin ein Mädchen aus Piräus." Menschenkind schüttelt sich, als wollte er nicht wahrhaben, was er wirklich sieht und hört. „Erst soll ich Dirk sein, und dann will dieser Kanntipperkanntapperpfannkuchen aus der Tschechoslowakei, pardon, nein, politisch korrekt: aus der tschechischen Republik, hier in diesem bayerischen Bierhaus ein Mädchen aus Piräus sein! Wo sind wir? Wie wird mir?"

Ditte lehnt sich an eine Gipssäule aus Beton und lächelt selig.

„O Hedwig, o Hedwig, die Nähmaschine geht nicht, ich hab's die ganze Nacht probiert und hab das ganze Eel verschmiert", singt scheinbar für sie der leckere Böhme den Gassenhauer auf Bemmisch, den sie schon von ihrer Großmutter im Thüringer Wald gehört hat, als die Uhren noch rückwärts gingen, und dessen Text nur noch wie Fettaugen auf einer Bewußtseinspfütze herumschwammen. Hier kommt zusammen, was zusammengehört, und obwohl Ditte und Menschenkind den Gassenhauer zusammen gehört haben, hat doch jeder und jede etwas völlig verschiedenes aufgenommen. „Auf Deutsch heißt das: ‚Der Meier, der Meier, der sucht die Nacht lang Eier, erst sucht er in dem warmen Nest, dann hat er sie sich abgepreßt'", rebelliert das geborene Berliner Menschenkind gegen die südliche Variante des bekannten Liedes, und auf dem Höhepunkt seiner Empörung grölt er diesen seinen Text in den Raum wie das Wort Gottes, was die am Nebentisch versammelte kleine Reisegruppe aus Österreich in Habachtstellung versetzt.

„Harmonie im Biergarten!" ruft Ditte aus und stößt das leere Henkelglas, das irgendein Fremder in der Nacht stehen gelassen hat, hart auf die gescheuerte Tischplatte. Sie lehnt ihren Kopf an Menschenkinds Schulter, deren Spannung unter dem Anlehnungsbedürfnis der Vertrauten nachläßt. „Nun schließ mal die Augen und folge mir. Sie steht früh auf und klappert mit Geschirr am Sonntagmorgen. In der Silberpappel vorm Haus rauscht der Wind dir einen Wald ins Gemüt."

Menschenkind bestellt zwei Bier.

„Jägerzaun, Plastestühle: Für Musik mußt du Ohren haben." Das Bier kommt, sie stoßen an. „Siehst du", sagt Ditte zu Menschenkind, „selbst wenn zwei so extrem unterschiedlich sozialisiert worden sind, können sie doch miteinander harmonieren, oder?" Da muß Menschenkind so losprusten, daß die Österreicher wieder in Habachtstellung gehen. „Harmonieren hat meine Großmutter zu der Sache selbst gesagt, du verstehst, was ich meine!"

„Du meinst das, wozu die da", und sie zeigt auf die Jungen mit Trainingsanzugsjacken aus dem Osten, „poppen sagen?" Menschenkind schlägt Ditte anerkennend auf die Schulter. „Wenn du auch aus der autonomen Bergrepublik Suhl kommst, ursprünglich, vor langer Zeit, kriegst du doch mit, wie der Hase wo lang läuft!" Stolz über dieses Lob eines Randberliners, stürzt Ditte das Bier hinunter und schwenkt den leeren Humpen in Richtung österreichischer Touristen.

„Na, dann, auf gute Nachbarschaft!"

„Auf die nächste Springprozession! Wir sind Tiroler! Wir sind lustig!"

Das war eine klare Ansage. Menschenkind stutzt.

„Noch nie was vom Berliner Humor gehört?"

Brigitte Struzyk

© scheinschlag 2003
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 2 - 2003