Ausgabe 01 - 2003 berliner stadtzeitung
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Neue Heimatverbundenheit

Lokale Trachten: Kiez-Mode in Berlin

Wer nicht aktiv an der Schlacht auf der Oberbaumbrücke teilnehmen will, kann inzwischen Farbe bekennen, indem er die passenden Fanartikel kauft. Und wenn dann einmal im Jahr die Friedrichshainer auf die Kreuzberger treffen, steht der Unbeteiligte gaffend in den hinteren Reihen und fühlt sich doch nicht ausgeschlossen, denn er trägt ja ein T-Shirt, auf dem der Name seines Kiezes steht. Die ganz Mutigen können sogar das ganze Jahr über so ein provozierend beschriftetes Hemd anziehen und damit durch das benachbarte Viertel stolzieren. Aber Berlin ist weder New York noch São Paulo, und so würde hier wohl weder ein Kreuzberg-Shirt in Hohenschönhausen noch ein 10119-Aufdruck im Märkischen für Verwunderung sorgen.

Wofür diese T-Shirts gedacht sind, bleibt somit auch etwas unklar. Vielleicht sind sie ein Accessoire aus der HipHop-Szene, wo die Gangster sich als Teil ihres Ghettos begreifen. Oder es sind all die Wahlberliner, die dadurch versuchen, ihren Heimatverlust zu kompensieren. Und mit der Heimatliebe auf lokaler Ebene kann dem unterdrückten Patriotismus ein Ventil gegeben werden. Oder handelt es sich um eine Gegenbewegung zu den Bezirksfusionen? Ein T-Shirt mit dem Aufdruck Charlottenburg-Wilmersdorf gibt es jedenfalls noch nicht zu kaufen. Vielleicht eine Fragestellung für Stadtsoziologen, doch zumindest an der Technischen Universität hat sich bisher noch niemand des Themas angenommen. Am Institut für Soziologie wird „dieses Phänomen für durchaus interessant" gehalten, doch vermutet man dahinter eher eine Modeerscheinung. „Kaffeetassen mit gängigen Vornamen waren schließlich auch schon einmal in."

Was auch die Gründe für diese Modeerscheinung sein mögen, Tatsache ist, daß kaum ein Second-Hand-Shop auf diese Utensilien zu verzichten scheint. Wer die Kastanienallee hinabgeht, wird mit einer riesigen Auswahl konfrontiert. Oderberger Straße, Pappelallee, Kastanienallee oder Mauer Park sind im ersten Laden, angeblich auf die Sechziger und Siebziger spezialisiert, die identifikationsstiftenden Aufdrucke. Etwas weiter im Red Star sind es dann die gängigen Schriften mit den ehemaligen Bezirksnamen oder dem Klassiker SO 36. „Seit zwei Jahren gehen die schon weg wie warme Semmeln", erklärt der freundliche aber ansonsten desinteressierte Besitzer. Wo er sie her hat, sagt er allerdings nicht: „Das bleibt mein Geheimnis." Beim Portugiesen am Weinbergsweg erfährt man zumindest, wer die dortigen Shirts entworfen hat: ein Kunde namens Bruno Nagel, so verraten es die ausliegenden Postkarten. Neben Sandwiches und Galao-Kaffee können nämlich auch hier Kleidungsstücke erworben werden. Der Versuch, originell zu sein, hat den Designer dazu verleitet, nur die Postleitzahl aufzudrucken und durch die spiegelverkehrte Schreibweise weiter zu entfremden. Eine Idee, die im übrigen seit der Fernsehserie „Beverly Hills 90210" gerne auch als witziger Abi-Spruch herhalten mußte.

Diese Stadtteil-Mode ist aber nicht auf Berlin beschränkt, sondern soll sogar europaweit existieren. Sehr bekannt sind beispielsweise auch die Londoner Shirts. Nur Wien dürfte ausgenommen sein, denn ob 2. Bezirk oder 14. macht schließlich keinen Unterschied ­ zumindest was den Schriftzug angeht. Am erfolgreichsten dürften aber eindeutig die Hamburger sein. Lutz Vautendiek gründete dort vor zwei Jahren zusammen mit dem Fotografen Bernd Possard das Label „Hamburg-Steil" und entwarf Aufdrucke für gebrauchte Trainingsjacken, die nicht nur den jeweiligen Stadtteil des Trägers verraten, sondern auch dessen angenommene Charaktereigenschaften, z. B. junge Moslems Altona, warme Brüder Ottensen oder freche Popper Schanzenpark. Eine Idee, die sich der Sponsor des Labels, West, gleich zu eigen machte. Als Werbung für seine neuen Zigaretten zeigt der Konzern Models, die T-Shirts mit Aufschriften wie Abschleppdienst St. Pauli oder Neue Armut Mitte tragen. Ähnliche Kombinationen aus Charakter und Namen eines Kiezes sind übrigens auch in der Kinowerbung von Berliner Pilsener zu sehen; dazu erklingt die Liebeserklärung an die Heimat: „Du bist so wunderbar, Berlin!" Fragt sich also, wie lange noch die Second-Hand-Läden die einzigen Vertreiber dieser scheinbaren Metropolen-Klamotten sind.

Crisse Küttler

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