Ausgabe 01 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Die Stimmung war dufte

Eine Ausstellung über die Bewohner der Stalinallee

Vieles ist schon geschrieben worden über die ehemalige Stalinallee. Doch wer sind die Menschen, die am 7. Januar 1953 dort einzogen, wie erlebten sie die Prachtstraße? Die Soziologin Ylva Queisser aus Stockholm und die Fotografin Lidia Tirri aus Sizilien wollten dieser Frage genauer nachgehen. Dabei stießen sie nicht nur auf Wohlwollen. Einige der Befragten waren es leid, über ihre Vergangenheit zu reden und womöglich wieder schlecht gemacht zu werden, so Ylva Queisser. Die Ausstellung zeigt neben einem zurückhaltenden Entrée über die Entstehungsgeschichte der Straße und den Aufstand am 17. Juni 1953 Ausschnitte aus den Lebensgeschichten der Erstbewohner – präsentiert in Fotografien aus den jeweiligen Wohnungen und O-Ton-Wiedergaben der Interviewten.

Die Initiatorinnen verzichten bewußt auf Kommentare. So wird man an eine gelebte DDR-Realität erinnert, unbeschönigt und ehrlich. Die Fotos, auf denen die Protagonisten zwischen Couchgarnituren, galerieartigen Schrankwänden oder vor einer Waldmotiv-Tapete zu sehen sind, bestätigen den ersten Eindruck. Die Zeit scheint stillzustehen hinter der Zuckerbäckerfassade. „Heute sagt meine Nachbarin, hier im Haus ist noch ein Stückchen DDR. Damit meint sie, es ist ihre Heimat. Im Grunde genommen hat sich auch wenig verändert, außer der Miete. Die alte Struktur ist zerschlagen, und man weiß nicht, wem das Haus gehört, aber das ist normal, wenn man im Kapitalismus lebt. Man muß sich damit abfinden."

Foto: Steffen Schuhmann

Mit der Wende schwanden die billigen Mieten, die provisorisch geklebten Kacheln aus Meißner Porzellan, die mieteroffenen Dachgärten mit Grillfesten und ... das Gemeinschaftsgefühl? Auch wenn sich die meisten zufrieden über die Sanierung äußern und immer noch oder schon wieder hier wohnen, schwingt Wehmut in den Worten mit, wenn sie von der einzigartigen Nachbarschaft schwärmen. „Wir haben uns alle gut verstanden. Die Stimmung war dufte damals", bekräftigt ein Erstbewohner. Das von der SED beschlossene „Nationale Aufbauprogramm" von 1951 folgte dem Kurs der Sowjetunion: Die Städtebauer sollten Paläste für die Werktätigen errichten. Und so betrieb der junge Staat mit einem ausgeklügelten Wettbewerbsverfahren politische Propaganda für die „erste sozialistische Straße Deutschlands", indem er sein Volk zu kollektiven Aufbaustunden anfeuerte.

Der Plan funktionierte – tatsächlich wurden 1952 von zehntausenden Freiwilligen mehr als vier Millionen Aufbaustunden geleistet. Lohn waren Geld- und Sachprämien oder ein Los, mit dem man eine der neuen Vollkomfortwohnungen gewinnen konnte. Wer zum „Bestarbeiter der Brigade" gekürt wurde, bekam auch ohne Los eine Wohnung. Einziehen konnte angeblich jeder, mit oder ohne Parteiausweis, das betonen die Interviewten. Eine skeptische Einstellung zu ihrem Staat kann man nur vage zwischen den Zeilen lesen, lediglich zwei der Befragten äußern sich offen kritisch und erinnern sich, daß es nicht leicht war, kein Parteimitglied zu sein. Es sind die leisen Töne, die einen bei dieser Ausstellung aufhorchen lassen.

Kathrin Wieck

> „Leben hinter der Zuckerbäckerfassade" ist noch bis zum 22. Februar in der ehemaligen Filmlounge, Frankfurter Tor 12, zu sehen. Geöffnet Di bis Fr von 16 bis 20 Uhr, Sa und So von 14 bis 20 Uhr

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