Ausgabe 01 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Pollerabend

An einem so verregneten Tag, einem angeblichen Sonntag, erscheinen uns die lichten Glasfelder über dem Lehrter Bahnhof so viel zu versprechen, daß wir aussteigen, um nichts zu suchen, sondern zu finden: Schräg im Regenstrich steht da vor uns, dem Spalierobst gleich, nur viel majestätischer, ein Granitquader neben dem anderen. Wir haben soeben den würfelförmigen Granitpoller im Vorfeld des Bundeskanzleramtes entdeckt, quaderich, praktisch.

Gut ­ eigentlich haben wir nichts gegen Poller, nein, im Gegenteil! Im Prinzip lieben wir sie über alles auf der Welt und in der Welt und in Fußgängerzonen, besonders lieb haben wir die Poller von Berlin, wie sie stolz aufgerichtet in mannigfaltigen Ausführungen das Straßenland schmücken und uns an unsere Herkunft erinnern. Waren wir nicht einstmals ein Volk von Seefahrern? Sind wir nicht alle dem Meere entkrochen, damals, als alles anfing?

Ditte denkt nein, Menschenkind denkt doch. Ditte denkt nämlich, wir haben uns damals, als alles anfing, bereits an einer Art Poller aufgerichtet, den aufrechten Gang und so, aber Menschenkind: Nö, kann nich sein, die massive Vollpollerung der heutigen Bundeshauptstadt datiert wohl von später, da konnten wir schon laufen. Aber Ditte denkt trotzdem darüber nach, warum Menschenkind erst von Meer und Seefahrt und all dem Wasser spricht und dann plötzlich auf den Poller, ja, mehr noch, auf die Vollpollerung unserer Bundeshauptstadt abhebt.

Na, Menschenkind, nun mal zur Sache! Die Sache ist die, sagt Menschenkind, und steckt sich eine Karo an, die Herkunft des Pollers! Der Poller ist ursprünglich ein starker Stummelpfeiler am Kai und am Deck eines Schiffes zum Belegen, zum kreuzweisen Herumlegen von Trossen. Also doch etwas zum Festhalten, nicht, sagt Menschenkind, und schon sind wir wieder einer Meinung.

Wie wir nun so weiterschlendern, euphorisiert und von hinten in den verregneten Abend vor oder nach der Entscheidung auf dem Fußballfeld, woher der Wind johlende Stimmen weht, stolpern wir doch über einen miesen, vereinzelten und einfach hingestreckten Klappoller, der zwischen den erhabenen Bauten des neuen Deutschland wie ein Hooligan, ein Provokateur der übelsten Sorte, ein BFC-Fan vielleicht, daherkommt. Aber schon werden wir wieder heiter ­ was macht das schon, so ein Sturz in die Pfütze, das Kreischen von Bremsen eines Polizeiautos neben uns wertet uns innerlich ganz schön auf, wie wir uns doch erheben können, wenn uns einer von denen seine Aufmerksamkeit schenkt, so glauben wir erst, als aber das Auto einfach weiterfährt, um einen Konvoi einzuweisen zum Reichstag hin, ist wieder der Poller da.

Wir würden ihn am liebsten mit- und bei uns aufnehmen, als guten eisernen Kameraden und Freund des Hauses, aber, selbst wenn er so lose herumliegt, könnte das Mitnehmen eines Klappollers eine Straftat darstellen, womöglich, auf jeden Fall, wenngleich es kein schwerer Diebstahl gewesen wäre, denn dazu hätte er irgendwie verankert sein müssen. Aber selbst ein leichter Diebstahl kommt uns in dieser Umgebung irgendwie unmoralisch vor, zumal das Polizeiauto wieder aufkreuzt! Dann eben nicht! Wie schön, wenn eine Entscheidung so positiv ausfällt! Fällt aus!

Wir lieben den Poller als solchen nicht nur, weil er so liebenswert ist, er ist ja auch ein ziemlich rätselhafter Geselle. Gesellig ist er schon! Schön, wie er plötzlich in Trupps wie aus dem Nichts auftaucht, wie er sich in Gegenden breitmacht und vermehrt, die niemals das Meer sehen werden, denn eigentlich, siehe oben, soll man ja Schiffe daran vertäuen bzw. ihn mit Trossen (kreuzweise!) belegen. Wenn eines Tages der Spreewald über- und dazu noch der Himmel ausläuft, was ja alles geschehen kann heutzutage, dann kommt die wirklich große Zeit der Großberliner Poller! Unsere Schiffchen und Gummiboote werden wir dann daran befestigen. Festmachen, das ist seine Bestimmung, festmachen, festhalten.

Wann kommt die Flut?

Brigitte Struzyk/ Dieter Kerschek

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