Ausgabe 11 - 2002 berliner stadtzeitung
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Mal eben nach Sibirien – ohne Umsteigen

Die Interkontinentalverbindung von Berlin-Lichtenberg

Zug

Laut klagten Politiker und Unternehmer, als der 11. September 2001 einen günstigen Grund bot, den unrentablen Washington-Direktflug nach wenigen Monaten wieder einzustellen. „Berlin braucht wieder eine Interkontinentalverbindung", lautet seitdem unisono die Forderung von Wirtschaftverbänden, Wowereit und Wachstumsoptimisten. Nicht nur eine direkte USA-Verbindung soll es sein, auch nach Japan soll Otto Normalgeschäftsmann umsteigefrei reisen. Sonst könnte Sony aus Berlin wegziehen. Als sei das Milliardendefizit Berlins mit einem Flugzeug voller Geschäftsleute zu bezahlen.

Daß Berlin eine Interkontinentalverbindung hat, die darüber hinaus rege angenommen wird, scheint in weiten Kreisen noch nicht bekannt zu sein. Vielleicht liegt es daran, daß die Reise nicht nach Amerika, sondern nach Asien führt, vielleicht sind auch die Reisenden nicht die, die sich die Offiziellen wünschen. Dabei kurbeln auch sie den Berliner Einzelhandel an, zumindest wenn er Flachbildschirme, Staubsauger, Autoteile oder Instant-Teepulver verkauft. Wahrscheinlich aber liegt es daran, daß es eine Interkontinentalverbindung auf dem Landweg ist: mit der Bahn.

Jeden Samstag um 15.42 Uhr startet auf dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg der D 1249 nach dem im europäischen Teil Rußlands gelegenen Saratow, mit dabei: Kurswagen nach den asiatischen Städten Omsk, Nowosibirsk und Astana. Den weitesten Weg, nämlich 5531 Kilometer muß zurücklegen, wer umsteigefrei in die sibirische Metropole Nowosibirsk möchte.

Es ist ein seltsames Schauspiel, ein Widerspruch zur ICE-Propaganda der Deutschen Bahn AG, eine Demonstration russischer Reisegewohnheiten und ein Beispiel des Gemächlichen, viel Zeit Beanspruchenden. Mitten zwischen Regionalbahnen mit Zielen wie Tiefensee, Templin oder Wünsdorf-Waldstadt drängen sich an einem kalten Samstag 30 Menschen im kleinen Wartehäuschen an Gleis 21. Ein junger Mann liest eine kyrillisch gedruckte Zeitung, andere unterhalten sich auf Russisch, eine Frau von etwa 30 Jahren mit Pelzmütze schaut stoisch geradeaus. Vor dem Häuschen stehen verschnürt und verpackt oder in blau-weiß-rot karierte Riesentaschen verpackt jene Güter, die es in den Zielorten der Reise nicht zu kaufen gibt: Haushaltsgeräte. Kaffee im Zwölferkarton. Eine Palette Eistee. Früher, als es den Lidl-Markt neben dem Bahnhof noch gab, wurde mit den Einkaufswagen auf den Bahnsteig gefahren und direkt in den Zug geladen. Jetzt fährt man mit der Sackkarre vor. Noch ist Zeit, denn es ist halb zwölf, die Abfahrt wird erst in über vier Stunden sein. Die Ankunft des Zuges ist für 12.17 Uhr vorgesehen, dann gibt es die Gelegenheit, einzusteigen und die Einkäufe samt Sackkarre einzuladen, obwohl man den Zug anschließend in den Betriebsbahnhof rangiert, wo er gereinigt und mit Wasser betankt wird.

Niemand regt sich auf, als die Lautsprecherdurchsage die Ankunft des Zuges mit 105 Minuten Verspätung ankündigt. In Erwartung einer bis Donnerstagfrüh dauernden, 104 Stunden und zwei Minuten langen Reise ist das zu verkraften.

Irgendwann kommt der Zug, hinter der modernen E-Lok der Bahn AG hängen dunkelgrüne, russische, sogenannte Weitstreckenwaggons, die einst in der DDR gebaut wurden. Es sind robuste Fahrzeuge, äußerlich mit ihren gesickten Wänden, dem hohen Dach und nach innen öffnenden Türen an amerikanische Eisenbahnwagen der dreißiger Jahre erinnernd, aber mit russischem Innenleben: Die Wagen sind für alle Klimazonen ausgerüstet, jeder hat seinen eigenen Kohleofen, den die Schaffnerin, die Prowodnitza, bedient. Liebevoll sind an den Fenstern Synthetik-Vorhänge drapiert, die mit „Nowosibirsk" und stilisierten Bauwerken der 1,5-Millionen-Stadt bedruckt sind. Im Einstiegsbereich liegt ein Schuhabstreifer, und die Prowodnitza wischt, bevor die Fahrgäste kommen, noch mal mit dem Lappen über die Griffstangen. Die vier Pritschen in jedem Abteil sind bereits heruntergeklappt, auf jeder liegt ordentlich zusammengerollt eine Bettdecke.

Auch heute haben wieder nur Frauen Dienst, männliche Schlafwagenschaffner, Prowodniks, sieht man selten. Streng wacht jede über ihren Wagen, hält ungebetene Gäste fern und zuckt mit den Schultern, wenn man sie auf Deutsch anspricht.

Unübersehbar prangt in einem Fenster ein Schild, welches in kyrillischer Schrift „Berlin" mit einem schwarz-rot-goldenen Band hinterlegt zeigt, dazu die wichtigsten Zwischenstationen und unten „Nowosibirsk" mit den russischen Landesfarben weiß-rot-blau. Unfreiwillig komisch wirkt nur das Lokomotiven-Bildchen, das ein gutmeinender Mensch wahrscheinlich im Internet gefunden hat: Es zeigt das Werbesymbol der US-Bahngesellschaft „Amtrak", mit den amerikanischen Landesfarben rot-weiß-blau...

Die Sowjetunion wollte einst zumindest Moskau mit den wichtigsten Hauptstädten Europas und Asiens direkt verbinden. Und so fuhren bis in die achtziger Jahre Schlafwagen von Moskau nach Bern, Genf, Madrid, Brüssel und Pjöngjang, auf der ganzen Strecke mit sowjetischem Personal besetzt. Der Nowosibirsk-Kurswagen ist allerdings weder ein Überbleibsel dieser Politik, noch der einst unverbrüchlichen Freundschaft der DDR mit der Sowjetunion. Eingeführt wurde die Verbindung erst am 1. Juni 1997. Die Reise geht dabei nicht über Moskau und die Transsibirische Eisenbahn, sondern über die südliche Route, über Ufa und Samara. Für läppische 177,30 Euro ist die einfache Fahrt nach Nowosibirsk zu haben.

Zwanzig Minuten vor vier. Tränenreich verabschieden sich Familienclans auf dem Bahnsteig. Irgendwie sind sämtliche Waren in den Vierer-Abteilen verstaut. Der Zugchef der Deutschen Bahn, der den Zug bis Frankfurt/Oder begleiten wird und hier doch seltsam fremd wirkt, klemmt die Pfeife zwischen die Lippen. Wer nur zum Verabschieden gekommen ist, steigt aus dem Zug, manche schaffen es gerade noch, während der Wagen schon anrollt. Ein Pfiff, und pünktlich um 15.42 Uhr fährt Schnellzug 1249 ab. Sibirien, 5531 Kilometer entfernt, ist ganz nah.

Text und Foto: Markus Hagel

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