Ausgabe 11 - 2002 berliner stadtzeitung
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Die Kunst verfolgt uns auf Schritt und Tritt

Texte zur Kunst von Urs Jaeggi

In den siebziger und achtziger Jahren hat er vielbeachtete Romane veröffentlicht, Bücher wie Brandeis und Grundrisse; bis zu seiner Emeritierung 1993 hat er, u.a. an der Freien Universität und in Bochum, Soziologie gelehrt. Seit Mitte der achtziger Jahre schließlich hat sich Urs Jaeggi, der heute in Berlin und Mexiko-City arbeitet, verstärkt der bildenden Kunst zugewandt; seine Installation I.110901 war kürzlich im Haus am Körnerpark zu sehen.

„Mir waren Zeichnen und Malen vertraut, als ich noch kein Wort lesen konnte", schreibt Jaeggi, „und gelassen habe ich es später nie ganz." Jaeggi, der literarisches und wissenschaftliches Schreiben zugunsten seines neuen Abenteuers zurückstellte, das ihn so fesselte, daß er meinte, aus einem „vierzigjährigen Schlaf" aufzuwachen, merkte freilich bald, daß er ohne sprachliche Reflexion nicht auskommen mochte. So rankten sich in den neunziger Jahren um seine Aktivitäten als Bildhauer, Maler und Zeichner Texte, in denen es um die Voraussetzungen künstlerischen Tuns heute geht, in die Autobiographisches und Zeitgeschichtliches gleichermaßen einfliessen. Unter dem Titel Kunst ­ so schlicht wie prätentiös ­ sind diese gesammelten essayistischen Texte aus den Jahren 1993 bis 2002 nun erschienen. „Je peins comme j'écris", faßt Jaeggi, Henri Michaux zitierend, sein Tun heute zusammen.

„Warum?" ist gleich der erste Abschnitt überschrieben ­ eine Frage, die sich durch das ganze Buch zieht, die Frage nach dem Warum künstlerischen Tuns in den Zeiten unbegrenzter technischer Reproduzierbarkeit und der schönen neuen Medien, die Frage nach dem Boden oder der Bodenlosigkeit des Handwerks. Dabei scheut Jaeggi nicht davor zurück, sich die pure Lust am Material als Antrieb für sein künstlerisches Tun einzugestehen: „Es ist wunderbar, mit einem Pinsel oder einer Feder über eine Oberfläche zu streifen, um etwas entstehen zu lassen: nichts ist leichter und nichts ist schwieriger." Auf einen Rückzug des Emeritus ins private Werkeln darf daraus allerdings nicht geschlossen werden. Bereits auf den ersten Seiten stellt er klar: „Kunst ist immer politisch, ob man es wahrnehmen will oder nicht." Er ist überzeugt, das eigentliche „Kapital" der Kunst sei „das Sichabsperren, die Verweigerung, der Aufstand".

Jaeggi begleitet mit seinen Texten Ausstellungsprojekte in Mexiko und Israel, einen Arbeitsaufenthalt im Seebad Lubmin, ein Skulpturenprojekt in Wittenberg: Die alte Stadt ist ihm fremd und vertraut zugleich; da ist der alte europäische Typus Stadt, dem auch seine Heimatstadt Solothurn entspricht, während er in der verfallenden Fabrik, in der seine Würfel gebaut werden, und überhaupt auf Schritt und Tritt mit dem konfrontiert ist, was oft euphemistisch „Nachwendeproblematik" genannt wird. Jaeggi berichtet auch von einem längeren Besuch in der Nervenklinik Gugging bei Wien, wo im berühmten „Künstlerhaus" unter der Ägide von Leo Navratil seit Jahrzehnten ­ ja, wie sagt man eigentlich? ­ Verrückte, Dezentrierte zu künstlerischem Gestalten angeleitet werden. Urs Jaeggi kommt zu dem Résumé, er könnte dort leben.

Florian Neuner

> Urs Jaeggi: Kunst. Texte 1993-2002, Alexander Verlag, Berlin 2002. 14,90 Euro

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