Ausgabe 10 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Schmutz und Schund

Das Samariterviertel auf dem Weg in die Zukunft

Menschen, die von Osten in die Stadt kommen, müssen erst mal durch die Platte. Hinter der Ringbahn dann, am S-Bahnhof Frankfurter Allee, beginnen Gründerzeithäuser das Stadtbild zu bestimmen. Dort, wo heute das „Ring-Center" steht, war bis kurz nach der Wende die Ringbahnhalle. Davor sowie in den benachbarten Straßen hatte sich vor ihrem Abriß ein blühender Schwarzmarkt entwickelt und Glücksritter unterschiedlichster Couleur angezogen. Hier befand sich das Zentrum des Handels mit preisgünstigen Zigaretten, und man konnte Autos unklarer Herkunft erwerben. Wo derartige Geschäfte florieren, lassen sich auch minderwertige Klamotten verscheuern. Das Ring-Center ist denn auch das einzige der in der Nach-Wende-Euphorie an der Frankfurter Allee entstandenen Einkaufszentren, das erfolgreich ist.

Dabei sollte aus der Frankfurter Allee eigentlich der „Kudamm des Ostens" werden, mit Konsumtempeln, die in den Kiez hineinstrahlen und ihn aufwerten. Daraus ist nichts geworden, es sei denn „Osten" war als Metapher für Armut gemeint. Die Frankfurter Allee ist heute ein Eldorado für Schund aller Art. Man fragt sich, ob die ganzen Pfennigfuchserläden womöglich künstlich am Leben erhalten werden, um Leerstand zu vermeiden. Inzwischen eröffnen immerhin auch wieder Geschäfte, die nützliche Dinge anbieten, russische Lebensmittel etwa oder Socken. Damit macht die Straße zwar keine großen Sprünge in der Berliner Einkaufsstraßenliga, aber vielleicht kann man in zehn Jahren ja doch noch mit der Neuköllner Karl-Marx-Straße konkurrieren ­ oder wenigstens mit der Turmstraße in Moabit.

Als man 1993 das völlig intakte Wohnhaus in der Rigaer Straße 27 abriß, um für die „Frankfurter Allee Passage" eine Schneise durch den Block zu schlagen, war auch der Blick freigelegt auf das ganze Ausmaß der Wühltätigkeiten an der Nordseite der Frankfurter Allee: Die Blöcke waren vollkommen ausgehöhlt und die Altbauten in der Rigaer Straße nur noch eine Art Sichtschutz. Der Kontrast zwischen den neuen, Zukunft verheißenden Konsumtempeln und der von ehemals besetzten Häusern geprägten Schmuddelstraße konnte kaum größer sein. Heute hat sich dieser Eindruck relativiert. Noch immer gehört die Rigaer Straße zu den Gegenden, die am stärksten von der alten Hausbesetzerszene dominiert werden, die 1990 Friedrichshain heimsuchte. Noch immer lungern auch die polnischen Pünke biertrinkend vor der Kaufhalle zwischen Voigt- und Samariterstraße herum und betteln. Die Trinkermeile allerdings, die sich Mitte der neunziger Jahre von hier über die Voigtstraße bis zum Spätkauf in der Schreinerstraße erstreckte, ist im Zuge der Sanierungen verschwunden. Mit ihr verschwanden auch die gelegentlichen Verbrüderungsszenen zwischen den alteingesessenen Trinkern in der Schreinerstraße und den bunthaarigen vor der Kaufhalle oder zwischen Glatzen und afrikanischen Einwanderern, die gemeinsam rituelle Tänze aufführten. Dafür haben inzwischen die ersten Cocktail-Bars in der Rigaer Straße eröffnet, und zwar in unmittelbarer Nähe zu den Besetzerkaschemmen. Das ist sicherlich kein Zufall.

Der Rigaer Straße deshalb ein gediegenes Ambiente vorzuhalten, wäre trotzdem vermessen. Das findet man heute eher eine Straße weiter nördlich, in der Schreinerstraße, wo in den letzten Jahren ein paar ganz passable Kneipen aufgemacht haben und mit viel Bürgerbeteiligung Spielplätze errichtet wurden. Um die kulturelle Identität des Kiezes zu brechen, hat man sogar Bäume angepflanzt!

Je näher man aber dem S-Bahnring oder dem Schlachthof kommt, desto mehr ähnelt das Viertel dem von 1990, mit seinem schrulligen Wildwuchs von „Modecafés" und ähnlichem. Das Strassenbild ist hier noch deutlich proletarischer und ostiger. Allerdings sind auch in dieser Ecke die Häuser mit Farbe übergossen worden, es stehen überall Kräne herum, und es wird viel gelärmt. Schließlich ist das Samariterviertel seit Menschengedenken Sanierungsgebiet ­ eines der ältesten Ostberlins.

Am Rande des Sanierungsgebiets liegt mit dem Forckenbeckplatz die einzige Grünfläche im Kiez, oder doch in der Nähe des Kiezes. Von hier aus kann man auch die Überreste des ehemaligen Schlachthofes sehen. Längst sollte an seiner Statt ein „vitales Stadtquartier" aus dem Boden gestampft sein. Das hätte ebenfalls in den Kiez hineinstrahlen und ihn aufwerten sollen. Wenn die Bauarbeiten im bisherigen Tempo weitergehen, ist damit wohl in 50 Jahren noch zu rechnen. Bis dahin kann die „Hundescheißewiese" auf dem Forckenbeckplatz in Ruhe weiter existieren, und die Pünke können sich im Sommer in Ruhe gelassen fühlen. Denn hier hat man sogar daran gedacht, die Kinder auf einem kleinen, abgetrennten Teil hinter Zäunen einzusperren.

Dirk Rudolph

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