Ausgabe 10 - 2002 berliner stadtzeitung
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Globalisierung durch Regionalisierung

Der Kollektivfilm 11'09''01

Nachdem über ein Jahr lang die immergleichen BBC- und CNN-Bilder der einstürzenden Zwillingstürme weltweit die Emotionen gleichschalteten, versucht nun eine Kurzfilmsammlung, „das Gefühl durch Verstand zu ergänzen". Der Franzose Alain Brigand bat elf namhafte Regisseure aus elf verschiedenen Ländern, jeweils einen elfminütigen Kurzfilm über ihre Sicht der Ereignisse beizutragen. Die Zahlenmystik sei ihm verziehen. Fast alle Beiträge spiegeln eine ähnliche Haltung wider: Es geht nicht um ein Entsetzen über „unzählige" Opfer oder den Angriff auf die selbsternannte zivilisierte Welt, sondern darum, daß sich die sogenannte Globalisierung in der Ausbreitung kultureller und politischer Normen der westlichen Gesellschaften erschöpft. Die Perspektiven, die sich nicht in westlichen Massenmedien manifestieren, sind gewissermaßen inexistent. Der Film 11'09''01 versucht, einigen von ihnen ihre Daseinsberechtigung zurückzugeben. Der Mexikaner Alejandro González Inárritu wählte eine experimentelle Bild- und Toncollage, der Brite Ken Loach drehte eine Kurzdokumentation. Alle anderen Regisseure verfilmten fiktive Geschichten.

Wie sehr die angebliche Dorfwerdung der Welt gerade nicht zum Verständnis fremder Kulturen beiträgt, sondern sie vielmehr ausschließt, wird schon daran deutlich, daß die Beiträge aus den nicht-hegemonialen Ländern vieler in Dialogen verpackter Erklärungen über die regionale Situation bedürfen, damit der Zuschauer die Handlung nachvollziehen kann. Europäische und US-amerikanische Filme haben solche Einführungen bekanntlich selten nötig. Baseball-Regeln und Halloween-Bräuche sind uns mittlerweile geläufiger als auch nur oberflächliches Wissen über wichtige politische Ereignisse in weniger einflußreichen Regionen. Die Iranerin Samira Makhmalbaf dreht konsequenterweise die Perspektive um und zeigt uns die erfolglosen Versuche einer im iranischen Exil lebenden afghanischen Lehrerin, den Kindern die Ereignisse in New York zu erklären, indem sie einen Schornstein als Vergleich für ein Hochhaus heranzieht. Doch statt der verordneten Schweigeminute widmen sich die Kinder lieber einem theologischen Disput über die Rolle Gottes beim Tod so vieler Menschen. Die Freiheit des Geistes obsiegt über ein aus einer fremden Welt importiertes Trauerritual.

Der französische Film von Claude Lelouch erinnert daran, daß auch bei einem Medienereignis wie dem Einsturz der WTC-Türme nicht jeder an dem kollektiven Erlebnis teilhaben konnte. Die taubstumme Protagonistin reflektiert über die amerikanischen Verhältnisse, während gleichzeitig ­ von ihr unbemerkt ­ die Bilder übertragen werden: „Amerika ist nichts für Behinderte. Es erträgt nur triumphale Riesen, Helden aus Hollywood-Filmen, Türme, die in den Himmel ragen." War es wirklich das Symbol der Freiheit oder eher das Symbol zerstörerischer Leistungssucht, das am 11. September fiel?

Auch Ken Loach spart nicht an Amerika-Kritik, indem er einen Exilchilenen in London die Ereignisse schildern läßt, die auf den von der CIA unterstützten Putsch gegen Salvador Allende folgten. Bezogen auf den 11.9.1973 in Chile erhalten die pathetischen Worte George Bushs über den „Angriff auf die Freiheit unseres Landes" ihre Angemessenheit. Das Versöhnungsangebot des Chilenen Vladimir Vega an die Opfer des Anschlags auf New York kann als Motto für den Kollektivfilm gelten: „Wir erinnern uns an Euch. Ich hoffe, daß Ihr Euch an uns erinnert!"

Der israelische Beitrag von Amos Gita¨ thematisiert die Sensationsgier, die es erst ermöglicht, daß ein so weit entferntes Ereingis auch in den letzten Winkeln der Welt kollektiv erfahren wird. Der in einer einzigen Einstellung gedrehte Film zeigt uns die Wut und Enttäuschung einer ehrgeizigen Reporterin, die erfahren muß, daß ihr aufregender Live-Bericht über einen Selbstmord- anschlag in Tel Aviv nicht gesendet wird, „nur" weil New York ein größeres Ereignis zu bieten hat. Die Inderin Mira Nair befaßt sich mit der nach dem Anschlag verstärkten Islamophobie, die eine pakistanische Familie in New York ins Visier der Terroristenfahnung geraten läßt. Der aus Burkina Faso stammende Regisseur Idrissa Ouedrago kann der Terroristenjagd sogar etwas Komisches abgewinnen: In seinem Beitrag versuchen fünf Schuljungen ihrer Armut zu entkommen, indem sie Bin Ladin fangen, auf den ein Kopfgeld von 25 Millionen Dollar ausgesetzt ist. Nachdem ihnen der verdächtig bärtig aussehende Tourist leider entkommt, bleibt nur ihr Stoßgebet an Bin Ladin, er möge doch möglichst bald wieder in ihre Stadt zurückkehren.

Der Versuch dem weltweit verordneten Erleben regional verhaftete und reflektierte Perspektiven gegenüberzustellen, ist diesem Kollektivfilm gelungen, gerade weil die Regisseure bei der Produktion nichts über die anderen Beiträge wußten. Gleichschaltung wird durch Pluralismus und Katharsis durch Reflexion ersetzt. Daß sich die politischen Haltungen der Regisseure zu einer fundierten Globalisierungskritik ergänzen, läßt auf einen fruchtbaren Internationalismus hoffen.

Katrin Scharnweber

> „11'09''01. September 11" kommt am 28. November in die Kinos.

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