Ausgabe 10 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Fischschwärme auf Ameisenstraßen

Das Symposium „Urban Drift" und die Architektur im Computerzeitalter

Wenn Architekten nicht gerade Häuser bauen dürfen oder Taxi fahren müssen, beschäftigen sie sich gerne mit Theorie und Diskurs. Das liegt daran, daß sie in Zeiten gemeiner Fertighaushersteller ihre Daseinsberechtigung immer wieder von neuem aus der Bedeutung der Architektur für das „Leben" ableiten müssen. Begünstigt durch berufliche Unsicherheit bei gleichzeitiger Globalisierungseuphorie und neuem Fortschrittsglauben gab es in den letzten zehn Jahren kaum einen Gedanken und kaum ein Phänomen, das nicht von irgenwelchen Baukünstlern untersucht und diskutiert, manchmal sogar verbaut wurde.

In Berlin, wo in dieser Zeit viele Architekten etwas bauen durften, gab es hingegen wenige, die nachdenken wollten. Die Faszination für Technologie und Globalisierung konzentrierte sich auf die neuen Medien; ihnen traute man zeitweise sogar zu, das Vakuum zu füllen, das die geplatzten Berliner Metropolen-Fantasien erzeugten. Wichtiges Forum für diesen Anspruch war seit 1998 das BerlinBeta-Festival. Großzügig, wie man damals war, erhielten dabei auch Fortschrittliche aus Architektur und Film einen Platz am Tisch.

Inzwischen ist der Medien-Hype und die Globalisierungseuphorie der Katerstimmung gewichen, und von BerlinBeta ist nur das FilmFestival und das Architektur-Symposium „Urban Drift" übrig geblieben, das vom 9. bis zum 13. Oktober unter großer Beteiligung im Café Moskau stattfand. In den luxuriösen und mythisch aufgeladenen Räumlichkeiten voller junger Menschen fühlte man sich wie ein Schiffbrüchiger auf einer zeitlosen Insel. Den Schiffbruch selbst beschreibt Francesca Ferguson dabei so: „Die negativen Auswirkungen einer mobilen globalen Wirtschaft sorgen für radikales Umdenken und eine ,after the crash'-Mentalität... Der derzeitige Architekturdiskurs setzt sich zunehmend mit der Knappheit von Ressourcen, mit der ,Schrumpfung' in der städtischen Ökonomie auseinander." In interdisziplinären Konferenzen und Präsentationen mit schönen Namen wie „Taktische Mobilität" oder „Netzwerk Urbanismus" sollte nach neuen Wegen gesucht werden, „die diese Disziplin in den kommenden Jahrzehnten gehen muß, um den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden".

Künstler (z.B. André Decker mit seinen „sozialen Skulpturen" oder Sabine Bitter und Helmut Weber mit ihren Videos über Schlafstädte der Moderne) oder Aktivisten (James Stevens oder Simon Worthington über Funknetzwerke) präsentierten sehr hilfreiche Ansätze. Die Architekten dagegen schienen trotz neuer, kritischerer Inhalte noch immer einem affirmativen Denken verhaftet zu sein. Dessen Ursprung liegt in einer Begeisterung für Theorie, mit der man nach dem Mauerfall auf die neuen, verwirrenden Prozesse in einer globalisierten Welt reagierte. Ganz im Interesse des Berufsstandes sollte mit Hilfe der Theorie geklärt werden, welche neuen Bedürfnisse und Erwartungen die Menschen an Architektur hätten und wie diese sich umsetzen ließen.

Die Verunsicherung bei gleichzeitig steigendem Bedarf an neuen Ideen muß dabei so groß gewesen sein, daß kaum etwas ausgelassen wurde: Chaostheorie und Individualisierung, Eventkultur und Fischschwärme, globale Finanzflüsse, Ameisenstraßen oder Touristen auf Mallorca, alles wurde auf Verwendbarkeit hin untersucht. Gleichzeitig wurde dank der neuen Möglichkeiten des Computerzeitalters auch die Aufbereitung immer wichtiger. Mit Hilfe präziser Diagramme, komplexer Grafiken und neuartiger Animation ließen sich noch die trockensten empirischen Untersuchungen vermitteln und verkaufen, und irgendwann glaubten auch die Architekten selbst daran. An diesem Punkt ersetzte nun die Begeisterung für schöne Computersimulationen den eigenen Standpunkt und die Affirmation des Untersuchten eine kritische Bewertung der Ergebnisse. Kein Wunder, daß die Häuser am Ende aussahen wie Diagramme.

Dabei hat sich in den letzten Jahren vielleicht weniger geändert, als einem das bunte Programm der Konferenz glauben machen will. Zwar werden nun auch negative Folgen der Globalisierung wie die Privatisierung des öffentlichen Raums oder der Verlust von Identität in den Vorstädten thematisiert. Trotzdem: Noch immer fehlt es vielen progressiveren Ansätzen zwar nicht an bunten Diagrammen, jedoch an einer Position, von der aus eine Gestaltung unserer Umgebung im Sinne der Bedürfnisse und Erwartungen der Menschen möglich wäre. Statt dessen nutzen konservative Architekten wie Rob Krier unser Bedürfnis nach Sicherheit, um ihre völlig kontrollierten Simulationen einer guten, alten Zeit unter die Leute zu bringen.

Daß jedoch nicht alle Hoffnung auf Selbsterkenntnis und Öffnung verloren ist, zeigte sich zum Schluß der Konferenz. Nachdem man sich via saftiger Eintrittspreise und intellektueller Abschreckunspraktiken drei Tage am Stück und ganz unter sich aufmunternd auf die Schultern klopfen konnte, hieß es am Ende: Urban Drift meets WMF. Weil sich die Gemütlichkeit unter dem Ansturm einer fünfzig Meter langen Schlange von Tanzwütigen nur kurz aufrechterhalten ließ, war die Rückkehr in die kalte Realität Berliner Leerraumvermarktung zwar etwas abrupt, doch hoffentlich heilsam. Dem Café Moskau schien das jedenfalls egal zu sein.

Stephan Becker

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