Ausgabe 10 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wer könnte mein Tiefkühlfach abhören wollen?

Doppelt bewölkter Tag: Ich muß zum Finanzamt. Die Finanzbeamtin sagt „Einkommenssteuerformular" und noch vieles mehr, was ich mir nicht merken kann. „Guten Tag", sage ich in einem anderen Büro, „ich hätte gern ein ...", ich habe alles vergessen. Die Beamtin lächelt mich an und sagt: „Ein Einkommensteuerformular?" Sie geht an das gigantische Regal: „Und ein Umsatzsteuerformular? Auch einen Freistellungsantrag? Und eine Feststellungserklärung? Einen Antrag auf Kinderfreibetrag? Die Anlage GSE? Und ein Körperschaftssteuerformular?" Ich bin den Tränen nah. Die freundliche Beamtin gibt mir einen großen Stoß Papier, ich räume das Papier in meine Tasche, die sich danach nicht mehr schließen läßt. „Wir sind immer für sie da!", ruft sie mir hinterher, und ich wünsche mir trotzdem eine Gesellschaft, in der es nur Tauschhandel gibt.

Unmöglich kann ich jetzt nach Hause gehen, wo ich mit all den Formularen allein wäre. In meiner Not komme ich an einem Lidl-Supermarkt vorbei. Am Eingang lächle ich dem Aufpasser zu, der potentielle Diebe abschrecken soll. Anstatt sich eine teure Überwachungsanlage zu leisten und ein paar Aufpasser, die zahllose Monitore anstarren, leisten sie sich nur den einen Aufpasser, der schlecht bezahlt am Eingang herumsteht. Er hält damit nur die allerdümmsten Diebe ab. Die Rechnung von Lidl geht trotzdem auf: Weil das Klauen so entspannt ist, klauen die Profidiebe hier nur selten, damit die Geschäftsleitung nicht auf die Idee kommt, sich doch eine Überwachungsanlage anzuschaffen. Klauen im Lidl ist für Profidiebe das, was für normale Menschen Urlaub in Südfrankreich ist.

Ich stromere durch die Gänge und nehme schließlich eine Packung mit zwölf Eis am Stiel. Sie ist so billig, daß ich mißtrauisch werde. Vieles ist hier so billig, daß ich mißtrauisch werde. Das kann nur rentabel sein, wenn sie in den Artikeln Minisender verstecken und ihr eigentliches Geld mit Spionage verdienen. Könnte in der Eispackung ein Sender versteckt sein? Allerdings stellt man eine Eispackung nicht neben das Telefon oder neben das Bett, Orte, an denen Abhöraktionen Sinn machen. Wer könnte mein Tiefkühlfach abhören wollen?

In den Einkaufswagen vor mir hat ein biederer junger Mann zwei Packungen Speck von Medikamentenschweinen gesammelt, ein Sixpack, eine Flasche Cola und ein Pfund Kaffee.

Ich denke an dieses Spiel aus Rätselheften oder Einstellungstests: Hier sehen sie vier Gegenstände. Welcher davon gehört nicht dazu? Ich tippe auf den Kaffee. Der junge Mann ist zum Grillen eingeladen worden. Er will Speck grillen und zum Trinken Bier und Cola mitbringen. Eindeutig, der Kaffee paßt nicht dazu. An der Kasse zückt er seine Brieftasche mit Fotos von Frau und Kindern. Ich sehe die Kinder vor meinem inneren Auge. Sie sitzen am Frühstückstisch, vor sich einen Becher mit Cola, seine Frau und er Kaffee, und die Kinder jammern: „Papa, wir wollen Müsli statt Speck!" Ich entscheide mich um: Das Bier paßt nicht dazu.

Nachdem ich bezahlt habe, spreche ich deutlich in Richtung Eispackung: „Wenn das Finanzamt wüßte, wieviel Steuern ich regelmäßig hinterziehe! Die würden mir glatt die Steuerbehörde auf den Hals schicken!"

An der Ampel stehen Schulkinder, mit denen ich das Eis teile. Ich habe keinen rechten Spaß mehr daran. Ein Minimikrophon nach dem anderen ist bereits in Kinderhälsen verschwunden, als mir einfällt, daß ich zumindest meinen Namen hätte sagen müssen. Jetzt ist es zu spät. Ich sehe die Steuerbehörde das Abhörgerät orten und mit Booten durch die Kanalisation rudern, auf der Suche nach der unbekannten Steuerhinterzieherin. Soll ich mir eine neue Eispackung kaufen und diesmal meinen Namen dazu sagen?

Die Eispackung ist leer, ich muß sie nicht mehr ins Tiefkühlfach bringen. So kann ich den Finanzformularen noch eine Weile entkommen und treibe mich in der Postbank herum. „Sie haben doch beruflich mit Geld zu tun", sage ich zu einem Mitarbeiter, „machen sie ihre Steuererklärung gern?" Er denkt einen Moment nach. „Ich habe noch nie eine Steuererklärung gemacht", sagt er. Halbtags verdiene er gar nicht so viel, daß es nötig sei, sagt er noch, danach höre ich nicht mehr hin. Ich will nur noch nach Hause.

Es ist ein schöner Tagesabschluß, alle Finanzamtsformulare in den Papiercontainer im Hof zu werfen. Danach kaufe ich mir ein richtiges, mikrophonfreies Eis in der Eisdiele.

Daniela Böhle

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