Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Impressum


Zur Homepage

Neues von der „russischen Seele"?

Eine Anthologie zeitgenössischer russischer Lyrik

Der zweisprachige Band Tam zvëzdy odne/Nur Sterne des Alls stellt russische Lyrikerinnen und Lyriker vor, die alle nach 1945 geboren sind, in Rußland breit publiziert und rezipiert werden, in Deutschland aber erst noch zu entdecken sind. Die ausgewählten Arbeiten, in den letzten Jahren entstanden, sollen für die russische Gegenwartsdichtung charakteristisch und produktiv sein.

An der Produktivität für eine Lyrik, die ästhetisch auf der Höhe der Zeit sein will, muß man bei der Mehrzahl der Autorinnen und Autoren zweifeln. Sie bedienen sich traditioneller Formen von Metrum und Reim, die überholt und heute obsolet wirken. Diese Formen werden meist gefüllt mit einer konventionellen poetischen Bildsprache, (Miß)Griffe in verstaubte Metaphern-Kisten finden sich zuhauf, und zwar nicht nur bei der älteren Generation der in der Stalin-Zeit Geborenen, sondern auch bei den 1960ern und 70ern. Es wird viel von „Gott" gesprochen, überhaupt werden viel zu viele Worte gemacht ­ zu den Ausnahmen komme ich noch. Der Feststellung im Nachwort, die Dichterinnen und Dichter näherten sich dem „Grundsätzlichen", das sie immer wieder verhandeln ­ Liebe, Natur, Endlichkeit des Menschen, Sinn des Lebens ­, „stets jenseits aller literarischen Klischees", muß deutlich widersprochen werden. Der Titel der Anthologie ist programmatisch ­ „Sterne" und „All": zwei überkommene Elemente aus einem inzwischen verbrauchten poetischen Fundus. Der Titel, in dem übrigens im Original „All" gar nicht vorkommt (wörtlich übersetzt heißt er: „Dort sind Sterne nur"), wurde auf unfaire Art aus einem Gedicht von Andrej Turkin (*1962) gerissen ­ unfair, weil Turkin lyrische Traditionen gerade ironisiert; seine Dichtung, die gelungenen Spott mit der sowjetischen Ideologie treibt, hebt sich auf erfrischende Weise von der der Metaphernschleudern ab.

Damit sind gemeint: Natal'ja Bogatova (*1959), über die der Titel ihres Gedichtbands Der Drache und das Glöckchen schon alles sagt; Ivan Zdanov (*1948), preisgekrönt und bekannt ­ er und die Philosophie-Dozentin Svetlana Kekova (*1945) bestätigen Klischees von russischer Lyrik als Dröhnen der russischen Seele; bei Kekova stehen Zeilen wie: „In den Nächten spiegeln deine Augen die Milchstraße wider / in des Körpers Hülle schwelt wie ersticktes Feuer die Seele", „Ja, sündig bin ich, doch verzeih mir du!" und, schon mit dem Zeug zum Kalenderspruch: „Im Leben aber, gebaut auf Blut, / belehren Quellen und Folgen der Liebe / das Herz zu denken, nicht zu leiden." Ebenfalls religiöse sowie klassizistische und antikisierende Töne schlagen Bachyt Kenzeev (*1950) („Und ich erhebe mich vom Lager / gleich Lazarus") und Irina Ermakova (*1951) an. Auch Nina Demazis (*1959) wird getrieben von einem Willen zum Klassizismus, ebenso der erst 33jährige Maksim Amelin, Catull-Übersetzer und offensichtlich in dessen Bann geraten. Kalte Oden hat er seinen Gedichtband genannt, streut Zitate klassischen Bildungsguts ein und schreckt selbst vor exzessiven Alliterationen nicht zurück. Stellenweise wird der hohe, melancholische Ton gebrochen, was man, wenn's unbedingt sein muß, vielleicht als postmodernes Verfahren bezeichnen kann. Zwischen verschiedenen Stilebenen wechselt auch Polina Barskova (*1976) in einem ihrer Gedichte (die Übersetzung deckt diese stilistischen Gegensätzlichkeiten leider zu), ansonsten huldigt sie Achmatova und Brodskij, was wenig innovativ wirkt, dem Herausgeber Feliks Cecik aber genügt, sie im Nachwort zu feiern als „vollendete Meisterin" im Gegensatz zu den in ihrer Generation verbreiteten „rein artistischen Spielereien" und „Faxen". Denis Novikov (*1967), einer der meistveröffentlichten Autoren seiner Generation mit Star-Status, vertieft sich, so Ceciks treffende Metapher, in die Labyrinthe des eigenen Ichs und geht dabei mit den poetischen Sprachtraditionen zumindest behutsamer und ökonomischer um als die eben vor ihm Erwähnten.

Einem nicht nur temporal zeitgenössischen Dichten angemessen scheinen die kurzen Formen Aleksandr Makarov-Krotkovs (*1959) zu sein, dessen Gedichte jeweils nur aus ein paar knappen Zeilen bestehen, in denen Ansätze zum Pathos gleich abgewürgt werden. Gelungen wirkt auch Timur Kibirovs (*1956) zurückgestimmtes Sprechen, dessen Weltverhaftetheit mit einer präzisen Wahrnehmung, auch von Schmutzigem und Widerwärtigem. Julij Gugolev (*1964) trat mit dem bereits erwähnten Turkin zusammen auf, die beiden knüpfen an die Tradition der Oberiuten (Charms & Co.) und des sowjetischen Untergrunds an, pflegen einen lakonischen Alltagston mit kuriosen und manchmal auf den ersten Blick närrischen Zügen.

Die Übersetzungen sind unterschiedlich gut geraten. Zurückhaltend sind sie darin, daß sie Reime meistens nicht wiederzugeben versuchen, aufdringlich, wenn sie in den Originalen angelegtes Pathos noch verstärken und stilistisch zu hoch greifen. Der Lakonismus der russischen Sprache, der vor allem bei den zuletzt besprochenen Autoren oft virtuos poetisch eingesetzt wird, ist im Deutschen kaum nachzuahmen.

Der Befund der Herausgeberin Anette Julius: daß nur drei der 21 Autorinnen und Autoren im Ausland leben, zeige eine grundlegende Veränderung der ­ das ganze 20.Jahrhundert von der Emigration geprägten ­ kulturellen Situation in Rußland an, muß relativiert werden. Die Dichterinnen und Dichter, die sich um fundamentale Innovationen poetischen Sprechens bemühen, die an den Worten als Material und nicht als Bedeutungsträger arbeiten, auf der Ebene der elementaren sprachlichen Bestandteile, nämlich Laut und Buchstabe, kurz: Lyriker/innen, die „experimentell" genannt werden können, sind in den letzten Jahren zum größten Teil emigriert: Sergej Birjukov, Sergej Sigej, Ry Nikonova, Ol'ga Mnacakanova ... Sie hatten nichts vom Aufschwung der Lyrik nach dem Ende der Perestrojka, von dem Julius schreibt. Sie sind auch in dieser Anthologie nicht vertreten.

Thomas Keith

Feliks Cecik und Annette Julius (Hg.): Tam zvëzdy odne/Nur Sterne des Alls. Zeitgenössische russische Lyrik. Anthologie. Kirsten Gutke Verlag, Köln und Frankfurt am Main 2002. 20 Euro

© scheinschlag 2002
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 09 - 2002