Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
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Antennenrenaissance

Die Wireless LAN-Szene trifft sich in Berlin

Als ich den schummrig beleuchteten Raum betrete, erwartet mich zuerst ein Kassierer, der mir die fünf Euro Teilnahmegebühr erläßt, dann gut drei Dutzend Laptop-Männer – wenige Frauen sind gekommen –, schließlich eine Theke mit Snacks, Mate und Mokka. Zwei Beamer werfen Screenshots an die Mauern des Bootlab in der Ziegelstraße, wo die als Workshop angekündigte Veranstaltung stattfindet, organisiert von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Londoner consume.net sowie W:lab, einer Berliner Firma des Wireless-Local-Aerea-Network (W-LAN).

Arbeitssprache ist Englisch, ohne Übersetzung. Da ist ein Berliner, der jetzt ein Funk-Computer-Netzwerk in Kopenhagen betreibt. Er zeigt farbige Kreise, die sich kreuz und quer über die dänische Hauptstadt ausbreiten. Ein Gerät wurde fotografiert; sieht aus wie ein Hybrid aus Wäschezuber und Fotokopierer. Das ist wohl die Schlüsseltechnik ... oder eine Funk-/Sendestation? Ich entdecke einen mir schon bekannten Antennenbauer aus Friedrichshain. Früher hielt ich seine Antennen für fantastische Objekte. Jetzt erfahre ich, daß der Antennenbau einen der kreativen Nebenbereiche der Computerszene darstellt, so wie auch die Geräuschisolierung.

Ein Repräsentant der Madrilener W-LAN-Szene präsentiert einen Computer, dessen Hardware in einem ausgedienten Aquarium in Speiseöl schwimmt – absolut kein Geräusch. Am Antennenbautisch entdecke ich die ersten fertigen Stücke: eine Milchtüte, eine große Oliven- oder Würstchendose – das sind jetzt wunderschöne W-LAN-Antennen. Ich fange an, mich zu langweilen, denn mir erscheint die Perspektive eines Funknetzes in städtischen Communities keineswegs als Ausblick auf die bunte, unabhängige Free-Network-Zukunft. Zwar zeichnen sich einige Nischen-Netzwerke mit Kommunal-Streaming (TV/Radio-Übertragung) und sonstigem nichtkommerziellem Datenverkehr ab. Aber die Entwicklung in den USA, wo Underground-Radios und TV-Sender via Internet neuerdings völlig überhöhte Gebühren für ihre Unternehmungen berappen müssen, stimmt mich doch eher skeptisch.

Sobald sich aus den Ideen der freien Szene lukrative Märkte entwickeln lassen, dürfte ihr die Low-Budget-Kommunikation entrissen werden. Die Szene sägt am eigenen Ast. Coole Firmen wie W:lab geben sich Mühe, die zahlende Kundschaft mit der Funkspaßtechnik zu ködern. Aus dem Text der W:Lab-Seite (www.wlab.de): „Die Zukunft des Internet ist Wireless. Wave.Lab bietet dafür die Lösungen. Universitäten, Cafés, Hotels, Flughäfen, Messehallen, Sitzungssäle sind die wichtigsten Orte, an denen sich Leute mit mobilen Computern oder Handhelds aufhalten."

Man hat eine nachhaltige Informationsökonomie beschworen, die die Bedeutung drahtloser Bürgernetze betont. Ob sich aber der Antennenwald über der Stadt in Zukunft tatsächlich restrukturiert und ob den Nutzern auf Dauer eine wirklich günstige, selbstorganisierbare Technik zur Verfügung steht, ist eine spannende Frage ­ die einzige an diesem recht LANgweiligen und sterilen Workshop-Wochenende.

Jörg Grüneberg

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