Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
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Draußen oder drinnen?

aufBruch zeigte Handkes Publikumsbeschimpfung im Gefängnis Tegel

MAufBruch – das ist Theater im verborgenen, nicht-öffentlichen Raum. Die Schließfächer, in die selbst die Geldbörse eingeschlossen werden muß, sind wie auch der improvisierte Empfangstisch nur das Vorspiel zum Theaterabend an ungewöhnlichem Ort. Oder sind sie bereits Teil des Stücks? Spätestens mit der Leibesvisitation in der Sicherheitsschleuse und den ernsten Mienen der Diensthabenden wird deutlich, was der Hochsicherheitstrakt der Tegeler Justizvollzugsanstalt (JVA) bedeutet. Nach einer Stunde wird der Eintritt gestattet, und wir betreten die „Stadt in der Stadt". Sie hat eigene Straßen, Häuser, Kirchen, Sportplätze, Werkstätten und ein Gefängnis. Der Kultursaal der Tegeler Anstalt ist seit nunmehr fünf Jahren das Theater des Berliner Künstlervereins aufBruch e.V.

Mit dem Stück Publikumsbeschimpfung von Peter Handke gelang es den Theaterschaffenden und ihrem Gefangenentheaterensemble, die Grenze zwischen Publikum und Darsteller, zwischen „Draußen" und „Drinnen" zu relativieren. Es beginnt mit Handkes Worten: „Dieses Stück ist eine Vorrede, keine Vorrede zu einem Stück. Es ist die Vorrede zu den Spielen und dem Ernst Ihres Lebens". Synchron im Chor erschallt es durch den dunklen Saal des Gefängnisses: „Wir sind hier, und sie sind das Thema". Die Gefangenen spielen sich selbst. Das Anliegen des Regisseurs Peter Atanassow ist deutlich, wenn er einen Häftling koboldhaft in Szene treten läßt: „Es ist Zeit, daß ihr auf Euch selbst blickt und die Lügen betrachtet, die ihr lebt". Seichte Unterhaltung wird hier nicht geboten: In der hermetischen Abriegelung des „Trabant Tegel" geht es um Selbstreflexion und Erkenntnis – schnell kann es passieren, auf der anderen Seite zu stehen: „Was wir sind, das wart ihr, was ihr seid, das waren wir."

Die 20 Strafgefangenen erkämpfen sich regelrecht die Nähe zum Zuschauer und lassen ihn zum Teilnehmer werden. Fünf von ihnen sind die Aufseher, unter deren Augen sie den Boden putzen und ihre wässrige Suppe löffeln ­ nicht ohne ein paar Schalen auch in die Ränge des Publikums zu geben. Die Trennung zwischen Fiktion und Realität wird aufgehoben: Wir sind in Europas größter Haftanstalt mit 20 Häftlingen in einem bewachten Raum und essen gemeinsam Suppe. Scheinbar sind wir den Häftlingen in Tegel nah, doch diese stellen richtig: „Wir waren unendlich von ihnen entfernt." Nicht die Darsteller sind Thema des Stücks, sondern das Publikum selbst wird zum Thema.

Im Rahmen des deutschen Juristentages hatte das Gefangenentheaterensemble bei der Premiere am 17. September die Möglichkeit, die anwesenden Juristen zu beschimpfen und mit der Gefängnisrealität zu konfrontieren. Sicher für manchen Gefangenen eine Genugtuung: „Ihr vorsintflutlichen Selbstmordkandidaten, Ihr Neunmalklugen, Ihr Persönlichkeiten des kulturellen und öffentlichen Lebens, Ihr Nazis, Ihr Schweine, Ihr Jammergestalten, Ihr Genickschußspezialisten, Schlächter, Herdentiere ..."

AufBruch ist politisches Theater und mehr. Die KünstlerInnen haben neben ihren Aufführungen im Tegeler Gefängnis, zu denen jeweils auch etwa 50 Gäste von außerhalb der Gefängnismauern kommen können, auch mit Ausstellungen, Performances, Ton- und Fotoinstallationen sowie einer Internetseite (www.trabant-tegel.de) versucht, den nicht-öffentlichen Raum Gefängnis in der städtischen Öffentlichkeit sichtbar zu machen ­ einen Blick von „draußen" nach „drinnen" zu vermitteln.

Jens Herrmann

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