Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
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Seltsamkeiten um die Berliner Lesebühnen

Die Berliner Lesebühnen wurden in den über zehn Jahren ihres Bestehens nicht gerade auffällig durch extreme, kaum einmal provokante politische Äußerungen, häufiger durch halb- (gern auch mal außer-) literarische Lustigkeiten und den unbedingten Willen zur Pointe. Der andauernde Erfolg des Konzepts gibt den Autoren recht, wenigstens was den finanziellen Aspekt der Sache betrifft: Über ausbleibendes Publikum müssen sie sich nicht beklagen. Doch jetzt ist ein Streit zwischen verschiedenen Lesebühnen ausgebrochen, und der Grund dafür klingt etwa so, als habe einer der Bühnenautoren einen besonders albernen Witz machen wollen: Man wirft sich gegenseitig vor, nationalbolschewistischen bzw. stalinistischen Positionen nahezustehen.

Auslöser waren zwei Konzerte des sibirischen Punkmusikers Jegor Letow und seiner Band Graschdanskaja Oborona im Kaffee Burger und im Mudd Club (Auftrittsorte der „Reformbühne Heim und Welt" und der „Surfpoeten") Anfang August.

Letow, in den Achtzigern noch dem Punk-Anarchismus verppfichtet, zählte 1994 zu den Begründern der russischen Nationalbolschewistischen Partei NBP (Mitgliedsausweis Nr. 3), deren Führer, der Schriftsteller Eduard Limonow, gern und ausgiebig von einem natürlich russisch und natürlich diktatorisch beherrschten „eurasischen Großreich von Kamtschatka bis Gibraltar" deliriert. Letow selbst gab 1997 zu Protokoll, Hitler und Stalin hätten „sich vereinigen müssen und gemeinsam gegen den Westen ziehen. Denn es waren zwei Kulturen, soziale Formationen, die absolut richtig waren." Mittlerweile hat er sich von der NBP getrennt, aber auf der (vorgeblich seit Jahren nicht aktualisierten) Internetseite seiner Band befinden sich noch immer unsägliche Aussagen ähnlichen Inhalts.

Dr. Seltsam, der sich selbst als Kabarettist bezeichnet und bei verschiedenen Lesebühnen sein Auskommen sucht, hatte vor etwa einem Jahr die ziemlich absurde Befürchtung geäussert, einzelne Lesebühnen seien dabei, „nach rechts zu kippen". Beim Auftritt Letows im Burger war einer seiner Adepten vom „club existentialiste" zugegen und interviewte Gastgeber Bert Papenfuß und Reformbühnen-Autor Wladimir Kaminer, die sich beide als Verteidiger Letows hervortaten. Seltsams Adept schrieb einen empörten Artikel in der jungen Welt, der Doktor geißelte bei der nächstbesten Gelegenheit Lesebühnen, die Neofaschisten zu Wort kommen ließen.

Allerdings hatte der Autor des junge Welt-Artikels seine Vorwürfe aus unvollständigen bzw. grob zusammenfassenden Zitaten zurechtgezimmert, und Seltsam war die Propagierung einer fixen Idee wichtiger als die Wirklichkeit. Denn Letow plus Band waren nicht im Programm der Surfpoeten oder der Reformbühne aufgetreten, sondern schlicht an denselben Orten wie diese. Hinzu kam, daß die inkriminierten „bösen Wanjas" während ihrer Konzerte Lieder mit Texten von Bulat Okudschawa und Wladimir Wyssozki und eigene Kompositionen aus den Achtzigern vortrugen, sich also nicht in flagranti als Nationalbolschewisten ertappen ließen, sondern vielmehr die Geläuterten gaben.

Danach wurde Dr. Seltsam von den Surfpoeten, der Reformbühne und Autoren anderer Lesebühnen eine Entschuldigung abverlangt, im eskalierenden Streit forderten sie den Rauswurf des „Stalins von Bad Schwartau". Der club existentialiste hoffte, unterstützt von der jungen Welt, auf Klärung der Situation via Podiumsdiskussion. Auch Burger-Poet Papenfuß fühlte sich unverstanden und sagte zu.

Am 11. Oktober wurde das Stück im Haus der Demokratie gegeben: „Nazis rein? Russische `Nationalbolschewisten' auf Berliner Lesebühnen". Der Abend geriet vollends zur Posse: Kaminer, Surfpoeten und Reformbühne boykottierten die Veranstaltung; Seltsam und sein Adept behaupteten viel und bewiesen wenig, ein Nationalbolschewismusexperte palaverte, Papenfuß eierte – befragt nach der überaus fragwürdigen Einladung Letows – ganz manierlich herum („radikal, vielleicht auch Nazi, ich weiß nicht"), ein betrunkener Podiumsdiskutant zettelte eine Schlägerei an. Zum Schluß erklärten sich alle für inkompetent. Ein Resümee, wie es sich für Lesebühnen ziemt.

gs

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