Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
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Berlin und das Leben als Kunstwerk

Über die deutsche Sucht nach Identität

Wie wohl ich mich mit meinen Freunden hier in Berlin fühle, hat nichts mit meinem Status als Ausländer in Deutschland zu tun. Das Leben eines Ausländers ist davon bestimmt, wie sich die Gemeinschaft den „fremden" Menschen gegenüberstellt. Als Ausländer wird mir die Maske eines Kollektivs zugewiesen, die ich und die anderen „Fremden" übernehmen sollen. Welche Maske das ist, hängt davon ab, mit welchem Ausländer sich ein Deutscher auseinandersetzt. Deshalb ist meine persönliche Erfahrung nur eine spezifische Gestalt des kulturellen Masken-Mosaiks der Stadt Berlin.

Obwohl der Begriff „Ausländer" bloß als Begriff für „nicht-deutsch" gelten sollte, habe ich manchmal den Eindruck, daß einige Deutsche dieses Wort brauchen, um ihre eigene Identität zu bestimmen und zu wahren. Die Suche nach klar definierter „Identität" führt zu einer Vereinfachung der Kultur und ist deshalb für eine Gesellschaft der Toleranz und der Gerechtigkeit gefährlich. Eine zeitgemäße „deutsche Identität" schmückt sich bei der Neueröffnung des Brandenburger Tores mit dem Ausländer Bill Clinton, nicht aber mit Musik von Khaled. Es ist diese „Sucht nach Identität", die gegenüber ausländischen Einflüssen so wählerisch ist, die mich in Deutschland stört.

Ich komme aus einem Land, mit dem sich solche „deutsche Identität" nicht so häufig auseinandersetzt. Meine Hautfarbe und mein Akzent verraten nur wenig über meine Herkunft. Aufgrund meines Aufenthaltes in einer Stadt wie Berlin und angesichts meines multikulturellen Freundeskreises bin ich optimistisch, daß man sich auf dem Weg zu einer vernünftigen sozialen Integration und zu einer kulturellen Demokratie befindet.

Dennoch gibt es einige Aspekte meines Alltags in Berlin, die mir fragwürdig erscheinen. In dieser Gesellschaft scheint eine strenge Ordnung des Lebens unabdingbar. Ein schönes Beispiel ist die Metapher der Ampel. Der kleine Ampel-Mensch ist eine respektierte Ikone. Aber er kann kein Leben vor einem Unfall retten. Die Sicherheit auf der Straße besteht vor allem im Sehen und Hören – in den Sinnen. Die starren, mittels Ampeln automatisierten Verkehrsregeln deuten darauf hin, daß sich die Menschen von ihrer Umgebung und voneinander entfremdet haben. Es herrscht ein blinder Glaube an ein System, an ein bloßes Funktionieren, ohne eine Kritik der ethischen Zwecke. So werden Erfahrungen verschwiegen, die Kultur verliert ihre Differenziertheit und Komplexität. Unvorhergesehene Ereignisse werden häufig als negativ empfunden. Eine Überraschung wird im Berliner Theater begeistert aufgenommen, aber im Alltag wird sie kaum geschätzt. Hier wird sie eher als etwas Fehlerhaftes angesehen.

Die Angst, die viele Leute und Freunde hier fühlen, erscheint mir manchmal als die Grundstimmung der Deutschen. Es ist eine abstrakte Angst. Es geht um eine Art der Phantasmagorie der deutschen Vergangenheit, die wie ein Geist in den Gegenständen, in Erzählungen und in Liedern der Deutschen aufscheint. Diese psychische Angst ist so tief, daß sie das Bewußtsein einer Gefahr erweckt. Besteht solch psychischer Zustand in der Wahrnehmung eines Schattens oder eben einer Realität?

Das Leben der Ausländer ist wegen vieler Maskierungen und Typologisierungen durch die Umwelt eingegrenzt. Daraus schließe ich, daß das Identitätsprinzip in Deutschland oder irgendwo zu keinem guten Weg führt. Solche Identität in der Kultur ist nicht nur unmöglich, sondern behindert auch eine friedliche Entwicklung der Welt.

Ein Kunstwerk ist nicht einfach von Logik bestimmt; aber gerade deshalb kann es vielleicht einen Leitfaden für das ethische Leben in Berlin liefern. Darunter verstehe ich sowohl die Erziehung zur Sensibilität in der Gemeinschaft und die Ordnung der menschlichen Beziehungen mittels des affektiven Verstandes. Die Logik mit ihren festen Urteilen sollte mit dem Rhythmus des Lebens als sinnlich-pragmatisches Korrektiv der ethisch-ethnologischen Konflikte immer wieder neu erfunden und verändert werden. Mir ist das Leben als Kunstwerk lieber, und Berlin ist übrigens sehr geeignet, ein solches Leben zu führen.

Rodrigo Paiva

Der Autor kommt aus Brasilien und lebt seit anderthalb Jahren in Berlin.

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