Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Gebrauchswert statt Tauschwert

Was man wirklich braucht

M Wenn es etwas umsonst gibt, sind die Menschen begeistert ­ oder irritiert. Ein spannendes Beispiel liefert ein Projekt in der Brunnenstraße. Dort nämlich gibt es für nichts schlichtweg alles.

Der „Umsonstladen" ist verführerisch. Neben Hunderten von Menschen, die sich hier von der Idee eines nutzen-orientierten Warenwertes überzeugen können, stoßen auch Journalisten auf ihre Geschichten, in denen der Wert des Geldes für kurze Zeit verschwinden darf. Wer die Türschwelle in der Brunnenstraße 183 überschreitet, tritt aus einer konsumgefärbten Welt, in der im Hintergrund noch die Leuchtreklame von Beate Uhse flimmert, in eine andere, findet sich wieder in einem entkapitalisierten Schonraum, der ­ ganz von allein ­ für produktive Auseinandersetzung sorgt. Immer wieder lassen Presse-, Rundfunk-, Fernsehjournalisten ihre Blicke durch die friedvollen Räume streifen, in denen klassische Musik, Bob Marley oder Ton Steine Scherben erklingen, und versuchen, sich mit dem Projekt des Umsonstladens auseinanderzusetzen.

Was ist das für eine Einrichtung, in der die Waren ihren Geldwert verlieren? Was sind das für Waren? Ja, sind es überhaupt „Waren"? Wenn plötzlich die Frage nicht heißt: „Kannst du das bezahlen?", sondern: „Kannst du es wirklich gebrauchen?" ­ dann verkehrt sich der Wert der Dinge. Man kann diese Auseinandersetzung in einer Vielzahl journalistischer Verlautbarungen beobachten. In der publizierten Aufbereitung ­ ob sie nun kritisch oder begeistert ist ­ gehen die Idee, die Ziele, die Werte des Umsonstladens aber oft verloren.

Der Laden existiert und kann existieren, weil Menschen zu einer Idee stehen und sie leben: Das „Kollektiv", wie die Umsonstlädler sich bezeichnen, versteht das Projekt als „praktische Kritik an der kapitalistischen Waren- und Wegwerfgesellschaft". Es geht ihnen um einen Freiraum von der Marktlogik, von Geld und Konkurrenz. Wer etwas übrig hat, kann es gerne vorbeibringen ­ solange es noch für jemanden von Gebrauchswert sein könnte. Wer etwas benötigt und es sich nicht leisten kann, der findet es vielleicht hier. Kein Tausch: Wer gibt, gibt, wer nimmt, nimmt. So einfach ist das. Angesichts dieses simplen Prinzips sind die Umsonstlädler verwundert und enttäuscht, wenn Zeitungen ihr Projekt als nettes Kuriosum abhandeln. Denn das will der Laden nicht sein ­ und auch kein „Service-Leister", kein „ökologischer Recyclingdienstleister", kein „karitatives Sozialprojekt".

Dennoch wirkt der Umsonstladen für Berlins Jugendumweltzeitung Juckreiz wie ein „Secondhand-Shop"; die taz ruft das „Berliner Verbraucher-Eldorado" aus, während die Süddeutsche Zeitung von einem „notdürftig hergerichteten Ladenlokal" berichtet und wieder andere von einem „Gratis-Shop", was eher an ein irgendwie „etwas anderes" 24-Stunden-Einkaufsparadies einer beliebigen Tanke erinnert, als an das kapitalismuskritische Projekt eines selbstverwalteten Kollektivs.

In jeder Veröffentlichung kommt ein neues Bild zustande. Ob die Zugehörigkeit im Kollektiv ­ wie häufig beschrieben ­ nun „ehrenamtlich" ist? Ob man im Umsonstladen tatsächlich, wie im Freitag zu lesen, etwas „ohne Bezahlung erwerben" kann? Ist es nun, wie die Süddeutsche Zeitung ausführt, „Sperrmüll" ­ oder doch Ware, was im Umsonstladen Menschen glücklich macht? Und was meint die Zeitung, wenn sie das „gepflegte Gespräch über Antikapitalismus" als „Dauerangebot" bezeichnet?

Hat Peter Nowak in der taz recht, wenn er behauptet, es sehe „so aus, als würden nicht in erster Linie solche theoretischen Fragen die Umsonstladen-Idee populär machen, sondern in Zeiten neuer Armut ganz praktische Gründe" ­ und der damit das dahinterstehende Ideal relativiert? Die „gesellschaftsverändernden Aspekte", die die Umsonstlädler in ihrem Projekt sehen, bewertet Nowak als „eher vage" und stellt sachlich fest: „Nachhaltige wirtschaftliche Auswirkungen hätten Umsonstläden erst, wenn sie in viel größerer Zahl entstünden. Schließlich müßte dann weniger produziert werden."

Auch wenn man in manchen Kommentaren das Bemühen spürt, ein richtiges Bild dieses kleinen Projektes zu vermitteln ­ die Divergenz ist enorm. Es mag eine authentische Vermittlung der politischen Ideale möglich sein, ein richtiges Bild gibt es nicht. Die Wahrnehmungen sind so vielseitig wie die Menschen, die dort ein- und ausgehen, aus politischen, sozialen oder eigennützigen Gründen oder auch einfach nur aus Neugier.

Der Umsonstladen wurde für die politische Auseinandersetzung geschaffen; er wird aber auch immer wieder von Menschen aufgesucht, die nicht an politischen Denkanstößen interessiert sind, die statt des Nutzwertes eines Gegenstands nur seine Schönheit sehen. Es gibt Besucher, die versuchen, das hier Gefundene beim Trödler gegenüber zu verkaufen, einige wollen einfach nur sprechen, wieder andere kommen, weil sie die Musik im Umsonstladen ganz entspannend finden. Ein schönes, absurdes Bild.

Martin Kaul

Foto: Jenny Wolf

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