Ausgabe 08 - 2002 berliner stadtzeitung
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Reimagine

New York auf der Suche

Über die Anschläge des 11. September ist in den letzten Monaten viel berichtet worden, auch über deren urbanistische Folgen. Planer, Architekten, Soziologen und Kulturwissenschaftler haben sich zu Wort gemeldet, Interviews gegeben, Vorträge gehalten, Artikel oder ganze Bücher geschrieben und sich dabei zum Teil heftig widersprochen. Vieles von dem, was innerhalb des letzten Jahres gesagt und geschrieben wurde, scheint aus heutiger Perspektive übereilt, die tatsächlichen Auswirkungen des 11. September auf unsere Städte ­ da scheint man sich einig ­ sind zum heutigen Zeitpunkt nicht faßbar.

Anstatt sich Abgesängen auf den Typus des Hochhauses zu widmen oder das endgültige Ende der schon oft totgesagten kompakten und dichten Stadt zu proklamieren, konzentriert man sich nun ­ zumindest in New York ­ lieber auf die drängende Frage der zukünftigen Entwicklung der Downtown, jenes südlichen Zipfels Manhattans, dessen charakteristische Skyline durch den Fall der Zwillingstürme des World Trade Centers zu einer zweitklassigen Stadtkulisse degradiert wurde. Die Debatte wird, wie sollte es anders sein, kontrovers geführt. Kontrovers wegen der unterschiedlichen Interessen der unmittelbar involvierten Akteure und des beachtlichen Interesses der Öffentlichkeit; kontrovers aber auch aufgrund der außerordentlichen Komplexität der Aufgabe.

Während Angehörige der Opfer der Anschläge des 11. September, unter anderem unterstützt durch den ehemaligen Bürgermeister Rudolph Giuliani, Ground Zero als „sacred place", quasi als Friedhof begreifen und eine Bebauung des Geländes ablehnen, präsentierte die von der bundesstaatlichen „Port Authority"-Behörde, dem Besitzer des Grundstücks, eilig ins Leben gerufene „Lower Manhattan Development Corporation" (LMDC) bereits im Juli sechs unterschiedliche Masterpläne für eine Neubebauung mit dem Ziel, den gesamten Büroraum wieder zu errichten, der durch die Zerstörung des World Trade Centers verloren gegangen war. Es ist der massiven Ablehnung der New Yorker Bevölkerung zu verdanken, daß die erschreckend ausdrucks- wie konzeptlosen, sich ausschließlich nach Kritierien der Vermarktbarkeit richtenden Entwürfe des von der LMDC beauftragten Architekturbüros Beyer-Blinder-Belle bereits kurz nach ihrer Präsentation in den Papierkorb wanderten. Auch gegen eine weitgehende „memoralization" des Gebietes (aus Sicht der Betroffenen verständlich ­ aus städtebaulicher Perspektive fatal) regt sich Widerstand. Stattdessen finden zunehmend Forderungen Gehör, die Gestaltung Lower Manhattans als Chance für die Zukunft New Yorks zu begreifen, als Chance, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, um dadurch die Zukunftsfähigkeit einer Stadt unter Beweis zu stellen, der die städtebauliche und architektonische Ausdruckskraft lange Zeit verloren gegangen zu sein schien.

Michael Sorkin und Sharon Zukin bieten in ihrem jüngst erschienenen Buch After the World Trade Center: Rethinking New York City eine umfassende und informative Sammlung von Aufsätzen renommierter Autoren, die sich der Geschichte und Zukunft derDowntown Manhattans widmen. Offensiv beziehen verschiedene Beiträge gegen das Kartell von Finanz- und Versicherungswesen, Immobilienwirtschaft und Politik Position, das die Entwicklung New Yorks über Jahrzehnte beherrschte und dem auch das World Trade Center seine Entstehung verdankt. Nicht nur was, sondern vielmehr für wen in Lower Manhattan geplant wird, ist nach Ansicht der Autoren die eigentlich entscheidende Frage. Sie bleiben die Antwort nicht schuldig und schließen mit der nur vermeintlich banalen Forderung: eine Stadt für alle ­ nicht nur für diejenigen mit Schlips und Kragen. Es gelte, sich von der Gigantomanie und Brutalität vergangener Planergenerationen abzuwenden, die Qualitäten der nutzungsgemischten und kleinteiligen Stadt wieder zu entdecken und neu zu interpretieren und an das quirlige Stadtleben, das mit dem Bau des WTC vernichtet wurde, anzuknüpfen. Die Forderung stößt auf Zustimmung, eine Rekonstruktion der Twin Towers ist unwahrscheinlicher denn je. Auch wenn sie heute oftmals mit Sentimentalität bedacht werden, wurden sie doch von vielen New Yorkern als bedrohlich und arrogant empfunden. Das Bedürfnis nach einer großen symbolischen Geste ist bei vielen jedoch geblieben, was in vielen Vorschlägen zur Neubebauung Lower Manhattans seinen Niederschlag findet.

„Don't Rebuild – Reimagine" titelte am Sonntag vor dem Jahrestag der Anschläge das New York Times Magazine und veröffentlichte die Arbeiten verschiedener Architekten zur Zukunft Lower Manhattans. Neben den üblichen Verdächtigen, den Weltstars wie Rem Koolhaas, Zaha Hadid, Peter Eisenmann, Steven Holl und Richard Meyer, wurden auch jüngere Architekten aufgefordert, sich über die Neubeplanung von „Ground Zero" Gedanken zu machen. Gemeinsam ergeben die verschiedenen Entwürfe (jeder Architekt widmete sich einem Teilraum) eine für den kurzen Zeitraum ihrer Entstehung beeindruckende Ideensammlung der möglichen – Ort und Zeit angemessenen – Architektur und Ästhetik eines neu zu errichtenden städtischen Zentrums, das über die Grenzen von Ground Zero hinaus wirken könnte. Nicht jeder einzelne Entwurf ist gelungen; manch ein Beitrag, wie der monströse Funkturm der Architekten Cobb und Nordenson, würde zwar dazu beitragen, den Ruf der New Yorker Skyline als eine der spektakulärsten der Welt wiederherzustellen – und erscheint dennoch belanglos. Andere Entwürfe spiegeln schlicht die Egozentrik ihrer Urheber wieder. Dennoch: Die Veröffentlichung der Arbeiten unterstützt diejenigen, die sich sowohl gegen die Monotonie der ausklingenden Moderne als auch gegen die postmoderne Einfältigkeit der letzten Jahre wenden.

Während die Vorschläge für die Gestaltung eines Mahnmals für die über 2800 Opfer der Anschläge zaghaft und sehr vage blieben, wird in der Frage der Nutzung der neuen Gebäude eine deutliche Position bezogen: Verschiedene Nutzungen sollen dem Stadtviertel Leben einhauchen. Die Architekten schlagen Kultur- und Bildungseinrichtungen, exklusiven wie geförderten Wohnungsbau sowie einen deutlich verbesserten öffentlichen Nahverkehr vor, um einem Stadtteil, in dem bislang nach Büroschluß die Bordsteine hochgeklappt wurden, städtisches Leben einzuhauchen.

Die ästhetisch und konzeptionell zum großen Teil überzeugenden Vorschläge sind als „work in progress" zu verstehen und verdienen gerade wegen ihres Mutes zur Offenheit Anerkennung. Wenn es ihren Verfassern gelingt, eine Allianz mit couragierten Urbanisten wie Zukin und Sorkin, aber insbesondere mit den Vertretern angrenzender, massiv von den Planungen beeinflußter Stadtteile zu formen und mit diesen die Planungen gerade in Hinblick auf sozialräumliche Aspekte weiterzuentwikkeln, wenn es gelingt, die Stadt von der Verantwortung zu überzeugen, die sie für den Wiederaufbau des verwüsteten Areals des WTC trägt, und wenn es darüber hinaus gelingt, das Interesse der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten, den Druck auf die einflußreichen Entscheidungsträger zu erhöhen und einen transparenten und demokratischen Pla-nungsprozess einzufordern, dann gäbe es Anlaß zu Hoffnung.

Johannes Novy

Michael Sorkin und Sharon Zukin (Hg.): After the World Trade Center: Rethinking New York City. New York 2002-09-12

HenryMuschamp: Don't Rebuild – Reimagine. New York Times Magazine, 08.09.2002, Artikel und Entwürfe nach kostenloser Registrierung abrufbar unter:
www.nytimes.com/2002/09/08/magazine/08

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