Ausgabe 08 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Etwas Ganzheitliches?

Über das Studium der Architektur ­ zwei Berichte

Die Erwartungen eines Studienanfängers gehen in die unterschiedlichsten Richtungen. Ich zum Beispiel glaubte, daß Architektur ein ganzheitliches Denken voraussetzt, zunächst theoretisch ist und letztlich gar nicht praktischer sein könnte – immerhin steht am Ende desöfteren ein fertiges Gebäude. Und genau diese faszinierende Konkretisierung von Gedanken, die millimetergenaue Standortbestimmung einer Steckdose, die sich auf logische Weise aus tausend Denkprozessen ableiten sollte, die wollte ich auch lernen. Ich wollte verstehen, wie sich Architektur stadtplanerisch integriert, im vorgegebenen finanziellen Rahmen bleibt, den Regeln der Physik gehorcht, nach ästhetischen, ökologischen, ökonomischen, ethischen, sozialen, künstlerischen, chemischen und historischen Gesetzen entsteht – kurz gesagt, ich hoffte, mich nicht zu langweilen.

Meine sieben Jahre Architektur waren eigentlich sinnlos, sie haben nicht einmal Spaß gemacht; aber immerhin, und das sage ich mit einem milden Lächeln: Sie sind vorbei. Was ich gelernt habe? Demut zuerst, angesichts des enormen Wissens, der Fertigkeiten und auch der hermetischen Sprache, über die Architekten verfügen. Später dann: ein bißchen Stolz, es doch so einigermaßen geschafft zu haben; und dann auch wieder Neugier. In den Büchern stieß ich auf seltsame Fragen, Corbusier wollte für Mussolini bauen, May ging in die Sowjetunion ­ warum spricht man davon nicht? Auch über das Stadtschloß diskutierte ich mit Taxifahrern, aber nie an der Uni.

Unter den vielen Fächern ist „Grundlagen des Entwerfens" die ungekrönte Königsdisziplin. Es besteht aus Entwurfs- projekten, die regelmäßig präsentiert werden. Man kann sich schwerlich in die Verzweiflung hineinversezten, die einen nach einer verbaselten Präsentation befällt: Neben einer verbalen Exekution durch die Professoren bedeutet es eine Woche Arbeitsrückstand. In der Regel gelingt die Wiederaufholjagd nur unter rigoroser Beschneidung des Privatlebens, nach einer Weile hat man keine persönlichen Interessen mehr, auch die Betätigungen außerhalb des Universitätsgebäudes sind fremdgesteuert, die Museumsbesuche, die Orte, die man ­ zum Zeichnen und Besichtigen ­ aufsucht und die Bücher, die man liest, werden von wohlwollenden Professoren vorgegeben. Mit meiner Erwartung, etwas sehr Ganzheitliches käme auf mich zu, lag ich also gar nicht so falsch.

Einerseits wurde ich Architekt, also ein Planer, Ästhet, dessen herrischer Gestaltungswillen keine Kompromisse duldet und auch keine Sentimentalität. Und andererseits blieb ich Bürger einer Stadt, die unter genau diesem Gestaltungswillen leidet wie kaum eine andere. „Einerseits­andererseits" ­ dieses Begriffspaar ist den Architekturstudenten verboten; man meint, es sei das gleiche wie „sowohl­als auch" und bedeute Zauderei, Beliebigkeit oder gar persönliche Schwäche. Man strebt nach bedingungsloser Entschiedenheit, obwohl doch in der Architektur nur die Bedingungen zählen, die alle voneinander abhängen und untereinander abgewogen gehören. Den letzten Versuch, die Plangrafiken und Perspektiven von derlei Abwägungen erzählen zu lassen, unternahm ich beim Diplom. Die Präsentation gelang, denn niemand verstand, was ich meinte.

Für Präsentationen ist ein großes Selbstbewußtsein erforderlich. Mit dem eigenen Projekt verkauft man sich als Person in gewisser Weise mit, von den Gedanken bis hin zum Auftreten; irgendwer hat mal gesagt: „Architekten sind Huren". Viele fangen an, gekonnt in den Wind zu wittern, der den genialischen Professor umweht. Es ist sehr schwer, das zu umgehen. Wir wurden, und das begrüße ich, angeleitet, Vorbildern nachzueifern, von ihnen zu lernen, indem man bereits Erreichtes übernimmt und in einem neuen Kontext anwendet. Für etwas wirklich Eigenes haben wir noch nicht die nötige Erfahrung und Substanz, so daß die „große architektonische Geste", die man uns nichts- destotrotz abverlangt, nur bestehen kann, wenn sie aus der raffiniert verschlüsselten Wiederholung eines Gedankens des Professors besteht. Die Fähigkeit zu kreativen Impulsen wird durch eine andere ersetzt: Man lernt, Gedanken zu lesen.

Christina Schettinger /Otto Witte

Die Autorin studiert seit einem Jahr Architektur an der UdK, der Autor ist seit einem Jahr damit fertig. Er ist kein Architekt geworden.

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