Ausgabe 08 - 2002 berliner stadtzeitung
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Skurrilität, Phantasterei, Abgedrehtheit

Am Puls der Zeit: Erzählungen und Chansons von Boris Vian

Es ist schon erstaunlich, in welchen Metiers sich Boris Vian in seinem kurzen Leben – er starb 1959 mit kaum 40 an einem Herzleiden – erfolgreich versuchte: Nach Abschluß eines Ingenieursstudiums schrieb er diverse Romane und Kurzgeschichten, dazu fast 500 (!) Chansons, die er auch selbst sang; er war Jazz-Trompeter, arbeitete bei Philips in der Jazzabteilung, wo er Texte für Plattencover schrieb und spielte in einigen Filmen mit. Andere bräuchten dafür mindestens drei Leben und wären nicht halb so gut dabei. Denn außer Masse hat Vian auch Qualität zu bieten. Damit eignet er sich nicht unbedingt zum Bestsellerautor, und in der Tat erscheinen manche seiner Romane auf den ersten Blick etwas sperrig und verlangen mehr als oberflächliches Lesen. In den fünfziger Jahren gehörte Vian zu den Künstlerkreisen im Pariser Viertel St.-Germain-des-Prés, Existenzialismus war damals en vogue, auf Photos sieht er jedoch meist eher unexistenzialistisch aus. In seinen Texten ist ihm nichts heilig, bei aller Skurrilität, Phantasterei oder Abgedrehtheit bleibt er nah am Puls der Zeit, sei es literarisch, wenn er die US-amerikanischen Hard-boiled-Krimis parodiert und dabei gleich noch gegen Rassismus mitanschreibt, oder politisch, wenn er in vielen seiner Chansons – der bekannteste dürfte Le Deserteur sein – gegen Krieg und Wiederaufrüstung singt. Allerdings nicht populistisch, sondern eher individualistisch und intellektuell, was die Chansons über die derzeitige Aktualität hinaus zum Hörvergnügen macht.

Um die Verbreitung des Vianschen Gedankenguts hierzulande macht sich seit einigen Jahren der Verlag Klaus Wagenbach verdient, indem er die Romane und Erzählungen in Einzelausgaben ediert. Da der Verlag aber auch ein Stück vom erfolgreichen Hörbuch-Kuchen abhaben möchte, gibt es seit einiger Zeit die Reihe „Leseohr", in der nun, sozusagen als eine Art Vian-Appetizer, eine CD mit vier Chansons (gesungen von Vian höchstselbst) und drei Erzählungen (gelesen von Michael Maertens) erschienen ist. Nicht zimperlich, was die Verwendung von Superlativen betrifft, um Vian zu bewerben, preist der Verlag diese Auswahl als die „exaltiertesten Chansons und Erzählungen des liebenden und störenden "Prinzen von Saint-Germain'" an, wobei „exaltiert" eigentlich nur hilfloser Ausdruck dessen ist, daß sich Vian einer eindeutigen Zuordnung zu Richtungen oder Stilen entzieht. Es ist also eine Zwitter-CD, deren Titel Tu mir weh dem Chanson Fais moi mal, Johnny entnommen ist. Es wäre noch eine schöne Zugabe gewesen, die Chansontexte im Booklet mitabzudrucken. So bleibt dafür erst mal nur der Weg ins Internet (empfehlenswert: http://borisvian.free.fr, http://www.walther-nienburg.de/Vian), wobei der Verlag wohl eher den Kauf der gedruckten Vian-Ausgaben favorisieren würde.

Wer sich gerne vorlesen läßt oder schon immer mal Vian singen hören wollte, ist mit dieser CD gut beraten. PuristInnen sollten allerdings die Finger davon lassen.

Carola Köhler

Boris Vian: Tu mir weh. Erzählungen und Chansons, gelesen von Michael Maertens und gesungen von Boris

Vian, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002. 16 Euro

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