Ausgabe 08 - 2002 berliner stadtzeitung
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Selbsttest eines Überlebenden

D. Holland-Moritz' Expedition in die Seventies ohne Retro-Kitsch

Daß die Siebziger in den westlichen Deutschländern etwas mit Reisen zu tun hatten, wußten wir schon. Die Kinder jener Generation waren inzwischen längst zu entideologisierten Kraft-durch-Freude-Aufenthalten in die kurzfristig besetzten Gebiete aufgebrochen, um jede Saison neu Sonne zu tanken und den etwas ramponierten Frieden in der Natur sich wiederzuerfinden, soweit das Kompaktklassewägelchen einen trug. Sie waren allerdings gehandikapt, was den eigenen Fluchtweg aus den Verhältnissen betraf: Die anzutretende Reise ging nun, wohin auch immer, zum Ich. Eine Reportage solchen Verreisens aus den Umgebungen zur erhofften Unmittelbarkeit legt D. Holland-Moritz vor und nennt seinen Text Lovers Club, damit zwei Vokabeln verbrauchend, die seinerzeit Inkunabeln lärmender Sehnsucht waren. Der dazu von Holland-Moritz gewählte Untertitel markiert doppelt den Ort des Beschreibenden: „Eine Stimme aus dem Off" monologisiert den Übergang der Bilder, die aus dem Text zu je vorhandenen Filmsequenzen im Kopf von Rezipienten überlaufen, in kleine Bedeutungsströme, die sich vom Text aus zu den Lesern verzweigen: Da verdichtet einer das Herkommen aus Solingen zur Kritik des Verhaltenhabens seiner Randlagen-Generation, ohne dem Pathos der gehabten Zeiten ganz zu entsagen. Das Zwiespältige bei der Lektüre kommt von dieser Oszillation, dem Bad in sex'n'drugs unter geborgenen Bandenbannern einerseits, sowie der nachlesenden Hebung von Sinn andererseits, beides im selben Ansatz verdichtet und zusammengehalten von einer hübschen Tonspur – den vielfach hereinzitierten Titeln proliferierter Gassenhauer vom Tiefblick in den bewußtseinserweiterten Zonen nebst Schnitten aus ihren heiligen Refrains, nennen wir sie fragmenti pseudo-philosophici. Um es klarer zu sagen, Lovers Club schreibt nicht nur über die Ausbruchsversuche einer sich ins Verlorensein hinein glaubenden Generation mit großer Präzision und einiger Schonungslosigkeit, sondern liefert den melancholischen Selbsttest eines Überlebenden gleich mit, an dessen Wortwahl die Partikel alter Träume kleben wie Staub von den Sternen, denen damals nicht ganz zu folgen war: in die unendlichen Weiten etwelcher Befreiung. Der so enstandene Text könnte authentischer vermutlich nicht sein – und einen trefflicheren Ort als den Merve Verlag nicht gefunden haben, dessen Programm von mythischen Fragmenten überläuft, die so mancher studentischen oder studentisch gebliebenen Halbgeneration das Material zur Remodellierung empfundener Denkansätze bereitgestellt hat. Die Bewegung des bei Holland-Moritz gerade noch skizzierten „Wir" der frühen Jahre zum elaborierten „Ego" seither findet so eine editorische Entsprechung, einschließlich der sich in den knapperen Sequenzen am Ende des Buches spiegelnden Verkapselung des Blickes in der Disparatheit mittellos gewordener Erkenntnisse zum Reichtum an falschem Sein: Die Passagen zur Gegenwart in Moabit und zur Documenta-Künstlerischkeit sind von einer Bitternis, die der Leser erst beziehen muß auf den historischen Vorlauf des „70er Jahre Local-Hero-Documents". Die Reise, auf die uns Holland-Moritz nimmt, weist den Abstand zwischen erlebter Zeit und gewünschter Zeitgeistigkeit bei all den Seventies-Apologeten dieser Tage, über die kein Wort zu verlieren ist, an dieser Stelle.

Ralf B. Korte

D. Holland-Moritz: Lovers Club.

Eine Stimme aus dem Off, Merve Verlag, Berlin 2002. 10 Euro

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