Ausgabe 08 - 2002 berliner stadtzeitung
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Die Insel ist ein Aquarell

Hiddensee, New York und Indien: Torsten Schlüter und seine Farben

MEs wird kalt in Berlin, der Herbst streicht über die Straßen und Wiesen. Aus Sandalen und Rucksäcken rieselt der letzte Ostseesand, Steine und Muscheln stapeln sich in Badezimmern und auf Fensterbänken. Der Badeurlaub, die Meeresfarben, die Sonnenuntergänge – für dieses Jahr vorbei. Nicht für Torsten Schlüter. Der Maler hat sein Sommerquartier auf der Insel Hiddensee verlassen und trägt die Farben und Bilder mit sich nach Berlin. Wie jedes Jahr seit 1983 hat Schlüter einige Wochen auf der Ostseeinsel verbracht, die seit einem guten Jahrhundert zärtlich „der Balkon von Berlin" genannt wird. Die Sehnsucht nach dem Meer verbindet den in Berlin geborenen Maler, der in Weimar Architektur studierte, mit Gerhart Hauptmann, Thomas Mann und vielen tausend Hiddensee-Begeisterten. Immerhin zählt die kleine Insel jährlich ca. 35000 Gäste, Tagesurlauber nicht eingerechnet. E.R. Greulich schrieb in einem Gedicht vom „Wunderland auf meerumträumten Molen". Das findet sich in den Farben Torsten Schlüters wieder: Seine Hiddensee-Aquarelle werfen Bögen von sattem Orange, knallen blaues Oktoberlicht gegen tiefes Wiesengrün; der rote Dornbusch wölbt sich in einen blutfarbenen Himmel; gelbe Nebel wabern durch Weidendickicht. Sonne und Blut lodern auf fast allen Bildern Schlüters.

Warum malt er auf Hiddensee fast ausschließlich Aquarelle? „Die Insel ist ein Aquarell. Naß in Naß. Jeden Augenblick etwas Neues", sagt Schlüter, „wo der Wind so viel Licht und feuchte Luft in Bewegung setzt, ist der Platz des Aquarells." Die rund 80 Aquarelle, die in der Ausstellung Hiddensee – der Balkon von Berlin seit einem guten Jahr durch das Land wandern, tragen natürliche Spuren. Einsetzender Regen zaubert einen Eistanz kleiner Schneekristalle auf Landschaften und Scheunen, der Wind klatscht Farbkleckse über die Blätter. Das Besondere an Torsten Schlüters Bildern ist ihre äußerste Lebendigkeit. Großartig sind zum Beispiel die hingeworfenen Kreidezeichnungen des Zyklus „Maltes Gänse I-VIII". Es gluckert und gackert, Hälse verschlingen sich in kräftigen schwarzen und weißen Strichen, orange Schnäbel bölken. Manche Bilder, wie die „Königskerzen", lassen hingegen an Tripfarben denken; zu glühend ist das Gelb der Blumen, zu violett der Himmel – und doch wirkt es echt, erschaut.

„Das Lebensgefühl auf dem Land ist ein anderes, Indien und Hiddensee, das sind meine Farben," sagt Schlüter, als wir in seinem Atelier in der Kulturbrauerei sitzen, „Farben sind unendlich in ihrer Vielfalt." Da gibt es tatsächlich viel zu entdecken. Die Bilder stapeln sich auf großen Gestellen, stehen an den Wänden und auf Staffeleien. Ganze Welten zieht Schlüter aus den Verstecken, Stadtansichten von New York, sich aufbäumende Berliner U-Bahnviadukte, geisternde Tänzer in Goa, Gesichter, Gestalten. Da sind Dutzende Yellow Cabs, knallgelbe Limousinen in expressionistischem Wirbel, ein sechsteiliger Zyklus in Acryl auf Karton im Format 105 x 76 cm gemalt. Im gleichen Format klettern sattrote Brückenelemente der Golden Gate Bridge in einen grünblauen Stadthimmel, stürmt die Glienicker Brücke die Wolken. Ein zartes Goamädchen in grünem Gewand zerfließt zwischen roten und blauen Bäumen, ein weißer Klecks gebiert eine Kuh. Indien tanzt und flackert, Berlin wuchtet, New York strotzt Metall. Die Farben und Materialien der afrikanischen Bilder wirken dunkler, erdiger.

Wochenlang reiste Schlüter in den neunziger Jahren durch Indien und Namibia, lebte in Berlin und New York. Und immer wieder auf Hiddensee. Hiddensee entdeckte Schlüter im Sommer 1983. Nach vier Tagen sei es passiert, da habe er sich in die Insel verliebt. Aus diesen ersten Tagen stammt ein Tagebucheintrag, den er im Skizzenbuch Hiddenseer AufZeichnungen veröffentlichte: „Neuendorf. Ein hingewürfeltes, windzerzaustes Dorf. Vielleicht tatsächlich ein Schabernack. Doch der Insel schönste Häuser flnden sich hier auf den zahnlosen Wiesen, wo Wäsche flott im Wind zwischen allerlei Hofgetier flattert. In der Mittagssonne trocknen die geflickten Netze und Reusen, bevor die Kormorane wieder hineinjagen ..." Für die Insel, auf der Schlüter „Inselpicasso" gerufen wird, hat er ein Logo entworfen, ein Motiv aus Welle, Vogel und Sonne, in zarten Pinselstrichen, das nun auf Postkarten und als Aufkleber vertrieben wird. Seine improvisierte Verkaufsgalerie in Kloster findet in den Sommermonaten ihr Laufpublikum. Einheimische klönen mit dem Maler und begucken seine neuesten Werke. Ist Torsten Schlüter also ein Saisonmaler, ein Touristenschröpfer und -beglücker? Es könnte so scheinen, wären da nicht die riesigen Gouachen, Öl- und Acrylbilder in seinem Atelier, die 1. FC Union-Bilder, die expressiven Frauenporträts und Skizzenbücher seiner Reisen. Torsten Schlüter ist ein zwitterhafter Maler, ein Autodidakt, der die Strategien des Marktes studiert hat. Der 43jährige präsentiert sich als Gesamtkunstwerk. Seine Erscheinung, sportlich und ein wenig verspielt, die mit Kaurimuscheln verzierten Westen und die lockigen Haare läßt Frauen sich nach ihm umdrehen. Belustigt erzählt er, wie Jackie A von der inzwischen eingestellten Sendung „beat" des SFB nach einer Atelierbesichtung unbedingt von ihm porträtiert werden wollte.

Schlüter hat einiges ausprobiert, bis er sich der Malerei verschrieb. Nach dem Architekturstudium unternahm er Ausþüge in die Bereiche Performance, Skulptur, Film, Literatur und Theater. Er entwarf Bühnenbilder, arbeitete als Tennislehrer und malte, seit 1988 als freischaffender Künstler. Die meiste Zeit des Jahres lebt und arbeitet Torsten Schlüter in Berlin. Mit seiner Freundin und dem kleinen Sohn wohnt er in Mitte, nahe dem Monbijou-Park. Die vielen Bilder, die in den Wintermonaten im Atelier entstehen, wurden größtenteils noch nie ausgestellt, so gut wie gar nichts verkauft. Die Gründerzeitbrücken von New York und Berlin ruhen neben den Namibiabildern und dem „Oktobersturm", einem Bild, das den Herbst '89 verarbeitet. „Kunst wird zum Meisterwerk, wenn der Zustand der Welt auf einen Punkt gebracht wird, komprimiert", meint Schlüter. Der pekuniäre Erfolg dieser verdinglichten Botschaft läßt (noch) auf sich warten. Aber Torsten Schlüter ist geduldig. In Peter Hacks' Schöner Wirtschaft könne man alles unterschreiben, damit meint Schlüter wohl Feststellungen wie diese: „Der Künstler liegt im Kampf mit den Gewohnheiten. Er kann nicht absehen, ob er den Kampf gewinnen wird, und er darf es nicht abzusehen versuchen; denn sein Geschäft hat dieses Wunderliche an sich, daß, sobald er auf den Erfolg zielt, der Erfolg wahrscheinlich nicht eintritt. Die durchschlagenden Erfolge in der Kunstgeschichte haben niemanden mehr überrascht als ihre Urheber."

Schlüter hat sich seine Unabhängigkeit bewahrt. Er kann von den kraftvollen Aquarellen recht und schlecht leben und dosiert seinen künstlerischen Einsatz nach Jahreszeiten und Landschaften. In Schlüters farbprächtigem Katalog Tulipamwe (der nach seiner Teilnahme an einer internationalen Künstlerwerkstatt in Namibia 1994 entstand) bescheinigt ihm der Autor Hans M. Schmidt im einleitenden Text „eine eher selbstsichere Unbekümmertheit" und verortet Schlüters Malweise als „zweifellos gespeist aus der Kunst des Informel und verschiedener Bereiche eines abstrakten Expressionismus".

Die Ausstellung der Hiddensee-Aquarelle ist seit Juni letzten Jahres von der Orangerie in Putbus über Ahrenshoop bis nach Wiesbaden gewandert. Nun findet sie in dem noch leeren, nach Honigwachs duftendem Raum der Galeristin Sabine Peters Barenbrock in den Hackeschen Höfen (Hof VII) vom 26. September bis 2. November ihre Heimstatt. Damit haben die Bilder paradoxerweise nach Hause gefunden. Der Berliner kann einen Balkonblick auf Hiddensee unternehmen oder sich in Schlüters Atelier indische Fischerboote, Berliner S-Bahnviadukte und Hexenporträts ansehen, die noch ihrer Ausstellung harren.

Anne Hahn

© scheinschlag 2002
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