Ausgabe 08 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Impressum


Zur Homepage

Berlin 1902

29. September

Sechs Uhr dreißig: Am Fenster der zweiten Etage eines großen Hauses in der Friedrichstadt erscheint ein holder Mädchenkopf, so wie ihn die Natur geschaffen. Noch ohne alle Verschönerungsversuche, ein rechtes Zoddelköpfchen. Prüfend blicken die Augen der Kleinen zum Himmel hinauf. Augenscheinlich, um die Witterung zu ergründen. Dann noch einen flüchtigen Blick die Straße hinab – und der Kopf verschwindet wieder.

6.50 Uhr: Derselbe Kopf erscheint an demselben Fenster. Nun schon etwas zurecht gestutzt. Das Gesicht eben frisch vom Waschbecken. Jetzt blicken die Augen nicht wieder hinauf zum Himmel, sondern hinab zur Straße. Mit einiger Spannung, mit etwas Unruhe. Spannung und Unruhe, aber der Kopf verschwindet sogleich wieder.

7 Uhr: Derselbe Kopf, fix und fertig. Hinter ihm der Kopf einer älteren Dame. Noch nicht ganz fertig, aber in Arbeit. Er beugt sich über den anderen Kopf hinweg und beide sehen hinab auf die Straße. „Noch nicht", ruft die ältere Dame ins Zimmer hinein, dann ziehen sich beide zurück, und das Fenster wird wieder leer.

7.10 Uhr: Ein Mann in Hemdsärmeln tritt hinzu, er scheint nervös beunruhigt, etwas Ungewöhnliches erwartend. Er beugt sich bedenklich weit hinaus, sieht hinunter auf den Damm, die lange Straße hinab. Dann schüttelt er mißbilligend den Kopf und verschwindet.

7.25 Uhr: Vater kuckt wieder hinaus, aus dem Nebenfenster die Mutter. Beide ärgerlich, verstimmt, unruhig. Gleich darauf sieht das liebe Mädchen von vorhin aus dem dritten Fenster. Sie sprechen lebhaft miteinander, aber augenscheinlich nicht in rosigster Stimmung. Plötzlich fahren alle drei mit einem jähen Ruck zurück. Es muß drin geklingelt haben.

7.40 Uhr: Ein langer Schlaks von etwa 16 Jahren erscheint am Fenster, er beugt sich breit und bequem hinaus, seine Augen konzentrieren sich auf die Straße, er beobachtet anscheinend das Haustor, als sei er bestimmt, hier Posten zu halten.

7.45 Uhr: Vater erscheint hinter dem Jungen und tupft ihm auf die Schulter, ohne Erfolg: Der Jüngling ist auf seinem Posten eingeschlafen. Vater ist wütend, der Junge wird durch eine Ohrfeige geweckt und so furchtbar angeranzt, daß er das Heulen vergißt. Dann zieht sich der Vater erleichtert zurück und der Sprößling lugt mit erneuter Aufmerksamkeit hinunter.

8 Uhr: Die ganze Familie liegt aus den vier Fenstern der Wohnung: Vater, Mutter, der Backfisch, zwei Jungs und drei Mädels. In den Zügen jedes Einzelnen malen sich lebhafte Aufregung, Bestürzung, Unmut. Das Baby schluchzt, als hätte es Zahnschmerzen. Die drei Erwachsenen rufen sich Worte des Zornes, des Ärgers, der Empörung zu.

8.20 Uhr: Der Schlaks wird am Kragen vom Fenster zurückgerissen. Gleich darauf stürzt er unten aus dem Haustor und jagt in großen Sätzen die Straße entlang, der Vater aber ruft ihm von oben nach: „Nummer 34 bei Pannemann!"

8.30 Uhr: Die vier Fenster zeigen noch immer dasselbe Bild, im Gesicht der Hausfrau ist eine leise Verstörung zu lesen. Sie sprechen nicht mehr miteinander, starren nur hinunter und zur Ecke der Nebenstraße. Endlich taucht der Sprößling wieder auf, atemlos rennend, mit hochrotem Gesicht, wie auf Kommando zieht sich die Familie von den Fenstern zurück, um den Heimkehrenden zu empfangen.

9 Uhr: Hinter den Fenstern ein unruhiges Hin und Her, die Kinder schreien, Vater schimpft, Mutter haut, der Backfisch ringt die Hände.

10 Uhr: Drei Fenster mit furchtbar erregten Gesichtern geschmückt. In ohnmächtiger Wut spricht der Vater von der Polizei. Mutter sucht ihn zu beschwichtigen, aber er stößt sie rauh zurück: „Hätt' ich's nur besorgt! Euch Weiber nimmt ja keiner ernst!" Mutter schluchzt laut auf, der Backfisch nimmt sie tröstend in seine Arme.

11 Uhr: Die Fenster sind ausgestorben, nur der Schlaks harrt an seinem Posten, finster brütend in verzweifelter Resignation.

12 Uhr: Schlaks brüllt an seinem Fenster freudig auf und ruft ins Zimmer: „Er kommt! Er kommt! Er ist da!" Vater, Mutter, Backfisch und Kinder erscheinen an den Fenster und beugen sich beängstigend weit hinaus. Unten fährt am Haus gemütlich ein riesiger Möbelwagen vor. Zwischen Wut und Freude schwankend schreit der Vater dem Fahrer zu: „Fünf Stunden Verspätung! Es ist 'ne Gemeinheit!"

Falko Hennig

© scheinschlag 2002
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 08 - 2002