Ausgabe 08 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Mit der Zeit verändert man sich

Über das Gefühl, Ausländerin zu sein

Wie viele Osteuropäer kam ich Ende der neunziger Jahre zum Studium nach Deutschland. Ich bin also sowohl Studentin als auch Ausländerin, meistens eher ersteres, aber es gibt natürlich Zeiten, in denen das zweite dominiert. Wenn ich im Stellenangebot sehe, daß „deutsch zu sein" eine Voraussetzung ist oder wenn mich die Leute komisch anschauen, weil ich in der S-Bahn meine Muttersprache spreche, frage ich mich wirklich manchmal: Habe ich denn etwas verbrochen? Man fühlt sich als Ausländerin wegen einer Eigenschaft, die einem nur die eigene Mutter geben kann: Herkunft. Man bekommt dieses Gefühl aber auch, wenn einem etwas so natürliches verboten wird, wie die eigene Sprache zu sprechen.

Zum Glück steht dieses Gefühl nicht immer im Vordergrund, weil ich einfach schon zu lange hier wohne, weil ich viele Freunde habe und weil ich spüre oder mir doch zumindest denken kann, welche ungeschriebenen Regeln in der Gesellschaft gelten. Ich will keinen Streit mit dieser Gesellschaft. Egal, wo man als Ausländer wohnt, muß man Kompromisse machen, es ist einfach ein anderes Land.

Wahrscheinlich hört man irgendwann auf, sich als Ausländer zu fühlen. Obwohl es viele Einschränkungen gibt, die man als solcher erleben muß, hängt doch viel davon ab, was man in Deutschland macht und was man hier werden will. Wenn man sich im neuen Land wohl fühlt, wenn man eine Arbeit, eine Familie hat, dann wird man nach den Eigenschaften eingeschätzt, die man hat, und nicht nach denen, die man nicht hat. Das ist es wohl, was man „Integration" nennt. „Sich integrieren" heißt für mich, die Traditionen des Landes, in dem man wohnt, zu akzeptieren und auch, sich im Leben dieses Landes zu engagieren. Die Menschen, die sich in dem Land wohl fühlen, haben sich integriert. Die Probleme entstehen eigentlich dann, wenn das Land selbst keine Fremden haben möchte, dann wollen diese sich auch nicht integrieren. Und dann sind es oft die Ausländer selbst, die als das Problem gelten.

Deutschland bildet viele Ausländer aus, die danach wieder nach Hause geschickt werden, nicht, weil sie fachlich schlecht sind, sondern einfach, weil sie nicht zu diesem Land gehören. Auch die vielen, die ein großes Potential besitzen, werden nicht geschätzt ­ nur, weil sie nicht hier geboren sind. Deutschland hat eine merkwürdige Bildungspolitik: Es verzichtet auf das Kapital, das es selbst investiert hat. Was zählen sollte, ist doch das Wissen, die Qualifikation der Menschen, von denen viele für das Land mehr leisten könnten, als so mancher, der hier geboren ist und dieses Wissen nicht besitzt. Für viele Ausländer ist ein Leben in Deutschland nicht attraktiv, weil das Land sie nicht haben möchte, ganz egal, was sie können, wissen oder sind.

Ich denke, Ausländer können nie ein Problem sein, denn sie bereichern die Gesellschaft mit ihrer Kultur und ihren Traditionen. Viele von ihnen machen die Jobs, die für die meisten Einheimischen nie in Frage kommen würden. Ausländer bringen neue Ideen, und sie wissen Dinge, die die Einheimischen nicht wissen können: Sie haben sich einmal im Leben entschieden, Ausländer zu sein, das heißt, daß sie zusätzlich zu allen anderen Erfahrungen, die man im Leben so sammelt, noch eine weitere, ganz besonders schwierige gemacht haben. Sie haben eine Herausforderung bestanden, die nur sie kennen.

Jeder von ihnen hat einiges dafür opfern müssen; bei mir ist es vor allem die Sprache, die ich vermisse. Jede Sprache bestätigt eine gewisse Lebensweise und wird von ihr bestätigt. Wenn man eine Lebensweise aufgibt, weil sie in dem jeweiligen Land nicht willkommen ist, verliert man einiges an der Sprache. Mit der Zeit verändert man sich, man denkt in einer anderen Sprache, verhält sich aber anhand der Sprache, mit der man aufgewachsen ist ­ wirklich ein sehr eigenartiges Gefühl. Die meisten denken nicht darüber nach, weil es das Leben zu kompliziert machen würde.

Anastasiya Alyeshchyeva

Die Autorin kommt aus Rußland und lebt seit vier Jahren in Deutschland.

Illustration: Hanna Zeckau

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