Ausgabe 08 - 2002 berliner stadtzeitung
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Die neue Mitte liegt links oben (VIII)

Was das Neue Berlin mit dem alten zu tun hat

Wer heute am Potsdamer Platz steht, Ecke Sony-Center, und versucht, sich vorzustellen, wie es hier aussah, als Berlin noch geteilt war, bekommt bereits Schwierigkeiten mit den einfachsten Orientierungspunkten. Touristen immerhin gab es hier damals schon, wenn auch nicht so viele wie heute. Sie pilgerten zur Mauer, deren hiesiger Teil zu den bekanntesten gehörte. Ansonsten war hier, auf westlicher Seite der Mauer, eine riesige Brache. In südlicher Richtung konnte man den von Studenten und Kakerlaken bewohnten, inzwischen abgerissenen Bellevue-Tower bewundern, ein schmucker grauer Zweckbau aus den sechziger Jahren. Westwärts sah man das Kulturforum und ein paar übriggebliebene einzelne Wohnhäuser. Damals hieß es immer, man könne sich gar nicht mehr vorstellen, daß der Potsdamer Platz einst der verkehrsreichste Platz Europas war.

Dabei hätte es nach den Westberliner Verkehrsplanungen durchaus wieder so werden sollen. Eigentlich wollte man hier immer gerne eine Autobahn bauen, die sogenannte Westtangente. Dem im Weg stand neben dem massiven Widerstand der renitenten Bürgerinitiative Westtangente auch ein kleines Grundstück namens Lenné-Dreieck, welches sich zwar westseits der Mauer befand, aber zum Ostberliner Stadtbezirk Mitte gehörte. Im Zuge eines größeren Gebietsaustausches kaufte Westberlin dieses Stück Land der DDR ab. Am 26. Mai 1988 besetzten deshalb Umweltschützer und Autonome das Gelände, das fortan Norbert-Kubat-Dreieck heißen sollte. Wie es damals Brauch war, kam es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Besetzern und der Polizei, räumen durfte letztere aber erst am 1. Juli, weil das Gebiet bis dahin noch zur DDR gehörte. Knapp 200 Menschen taten dann das, was der westdeutsche Spießer schon immer von ihnen gefordert hatte: Sie gingen „nach drüben" und brachten sich vor der anrückenden bewaffneten Staatsmacht mit einem Sprung von der Mauer in Sicherheit.

Wenn man heute durch die zu etwas Ähnlichem wie Leben erweckte Computeranimation am Potsdamer Platz über die Potsdamer Brücke auf die andere Seite des Landwehrkanals gelangt, merkt man deutlich, daß dieses Viertel hier eher etwas mit der ehemaligen Brache als mit dem heutigen Erlebnispark zu tun hat. Weder kann man sich die türkischen Jugendlichen, die sich in der Straße Am Karlsbad treffen, am Marlene-Dietrich-Platz vorstellen, noch umgekehrt die Touristen hier. Genausowenig kommt man allerdings auf die Idee, daß diese Straße bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu den vornehmsten Adressen der Stadt gehörte und bis zu ihrer weitgehenden Zerstörung im Zweiten Weltkrieg eine gehobene Wohngegend blieb. Was die Bomben nicht kaputt bekommen haben, erledigte nach dem Krieg die Abrißbirne. Wegen der Autobahnplanungen kaufte das Land Berlin nach und nach die Grundstücke auf und ließ noch vorhandene Gebäude aus dem Weg räumen. Die heutige Bebauung und der idyllisch gelegene, großspurig „Park" genannte Grünstreifen zwischen dem vielbefahrenen Schöneberger Ufer und Am Karlsbad sind Ergebnis des letzten, 1987 ausgeschriebenen städtebaulichen Wettbewerbs der Internationalen Bauausstellung. Ziel des Wettbewerbs war es, „eine deutliche Stadtkante auszubilden und eine städtebauliche Erneuerung einzuleiten". Damit sind die Hauptfeinde aller Städte bennannt: Krieg und Stadtplanung.

Folgt man von hier aus der Potsdamer Straße stadtauswärts, fällt auf, daß sie immer lebendiger wird, je weiter man sich vom Potsdamer Platz entfernt. Selbstverständlich ist sie nicht mehr die gehobene Geschäftsstraße, die sie einst war. Im Tiergartener Teil ist sie eigentlich gar keine richtige Einkaufsstraße mehr. Der griechische Laden z.B., der sein Domizil vor ein paar Jahren noch im Vorderhaus zwischen Bissingzeile und Lützowstraße hatte, ist inzwischen ein Großhandel geworden und ins Hinterhaus umgezogen. So stehen in der Potsdamer Straße denn auch einige Läden leer ­ und Büros, wenn man den unzähligen Schildern Glauben schenkt.

Den Seitenstraßen in Richtung Flottwellstraße merkt man immer noch an, daß sich niemand so richtig für sie interessiert. Vieles wirkt provisorisch oder zusammengestückelt. Das hat natürlich einen gewissen Charme, läßt einen aber unweigerlich denken, sich am Arsch der Welt zu befinden. Umso überraschender dann, in der Kurfürstenstraße tatsächlich auf „Die neue Mitte" zu stoßen. Es ist eine Schultheiss-Kneipe. Der Ort ist aber die einzige Überraschung, besonders, daß er gar nicht links oben liegt, sondern eigentlich eher links unten. Ansonsten ist die neue Mitte genauso, wie man es erwartet hätte: ziemlich langweilig.

Dirk Rudoph

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