Ausgabe 07 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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14.15 Uhr

Tombo war im Hauptberuf Maler und „Bauunternehmer", im Nebenberuf Philosoph. Oder umgekehrt, wer weiß das so genau. Er sei kein freundlicher Mensch gewesen, sagt eine Freundin. Jemand, der nicht dazu einlud, ihn zu mögen. Und den man vielleicht gerade deshalb mochte. Ihre erste Begegnung, erzählt sie, fand 1991 statt, in ihrem Büro im Tacheles. Eines Morgens saß dort überraschend Tombo, ein wenig betrunken. Wie er hier reingekommen sei, fragte sie. Er: „Das ist die falsche Frage."

Es war offenbar die richtige Antwort.

In der Sterbeurkunde steht, daß Tombo zwischen dem 3. und 13. Juni, 14.15 Uhr, in Berlin-Mitte verstorben sei. In seinem Atelier in der Linienstraße.

„Verstorben" ist ein Euphemismus ­ Tombo hat sich erhängt. Niemand kann sagen, wann genau sein Leben zu Ende war. Man hat ihn am 3. Juni zum letzten Mal lebendig gesehen und schließlich am 13. Juni um 14.15 Uhr tot aufgefunden. Am 11. Juni war sein 36. Geburtstag.

Clemens Wallrodt war nur 35 Jahre alt geworden. Er starb am 19. Juni 1995. Clemens und Tombo waren Freunde. Auch Clemens war Maler und Handwerker ­ Elektriker. Beide waren von Anfang an, seit 1990, im Tacheles zugange. Beide nahmen die Sache ernster, als es manchem manchmal lieb gewesen wäre. Clemens brachte es in der Anfangszeit schon mal fertig, Stromleitungen zu kappen ­ der Verbrauch der etlichen „wilden" Heizlüfter hätte die Betriebskosten des Tacheles-Vereins explodieren lassen.

Tombo hatte früh begriffen, daß weniger eine abstrakte Idee das Wesentliche am Tacheles war, sondern schlicht das Haus selbst. Er trug Sorge dafür. Sicherte gefährdete Räume. Seinen großen Schlüsselbund verwahrte er in einem Safe.

Clemens starb bei einem Autounfall, bei der Rückkehr aus Paris, wo sich eine Gruppe von Tacheles-Leuten an einer Kunstaktion beteiligt hatte. Er wurde von seinen eigenen Bildern erschlagen. Tombo kümmerte sich um Clemens' Nachlaß. Er und andere Freunde von Clemens trugen dessen Bilder in Tombos Atelier.

Nun trugen die Freunde dieselben Bilder wieder aus Tombos Atelier heraus. Und Tombos Bilder dazu.

Sie sagen, sie wären selbst erstaunt gewesen über das Ausmaß seines Werks.

Auch Clemens' Lederjacke haben sie noch in Tombos Atelier gefunden.

us

Fotos: Juliette Brinkmann

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